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Der Junge, der Anne Frank liebte

Der Junge, der Anne Frank liebte

Titel: Der Junge, der Anne Frank liebte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ellen Feldmann
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Titel in Schreibschrift.

    Das Tagebuch eines jungen Mädchens
    Sie sitzt an einem kleinen Tisch in ihrem Zimmer und schreibt. Dr. Pfeffer will ihn benutzen, aber sie bettelt um mehr Zeit. Sie beugt sich über den Küchentisch und macht einen Eintrag. Mammichen neckt sie. Laß mich sehen, Anne, nur eine Seite. Sie kauert auf einem Stuhl und Schreibt wild in ein Notizbuch auf ihrem Schoß. Margot sitzt auf dem anderen Stuhl, schreibt in ihr Tagebuch. Sie schreiben alle für die Nachwelt, wie Herr Bolkestein, der Minister, es in einer Sendung der niederländischen Exilregierung in London gefordert hatte. Nach dem Krieg, so hatte er versprochen, würde aus den Tagebüchern und Briefen eine Sammlung gemacht werden, um der Welt zu zeigen, wie das Leben hier gewesen sei. Ich werde veröffentlicht, sagt Anne, ich werde berühmt werden. Margot macht keine Voraussagen über die Zukunft ihres Tagebuchs, obwohl ihres, wie wir alle annehmen, dasjenige sein wird, das Aufmerksamkeit erregen würde. Margot ist die ernste Schwester.
     Aber es war Annes Tagebuch, das dieses Schwein von der Grünen Polizei an jenem warmen Sommermorgen, als sie kamen, um uns zu holen, auf den Boden schmiß. Hatte ein Nachbar einen Schatten hinter einem verhängten Fenster gesehen? Hatte einer der Männer, die unten im Lager arbeiteten, ein Geräusch gehört, trotz der Vorsicht, mit der wir uns tagsüber bewegten? Wurde irgendein Händler mißtrauisch wegen der Nahrungsmengen, die Miep, Ottos ehemalige Sekretärin und nun unsere lebenswichtige Verbindung zur Außenwelt, aufgetrieben hatte mit Hilfe gefälschter Lebensmittelkarten, ihrem gewinnenden Lächeln und den Absprachen, die mein Vater mit einem Metzger getroffen hatte, bevor wir untertauchten? Jemand muß der Grünen Polizei einen Tip gegeben haben, weil sie wußten, wohin sie zu gehen hatten. Sie kommen mit angelegtem Gewehr die Treppe hoch, sie ziehen das Regal weg, das den Eingang zum Hinterhaus verbirgt, und steigen die Stufen zu den kleinen Zimmern herauf. Sie sind in Zivil, bis auf einen, der eine Uniform trägt. Er fragt, wo wir unsere Wertsachen aufbewahren. Seine fette Faust schließt sich um ein Bündel Banknoten. Er betrachtet den Schmuck, kann ihn aber nicht ergreifen, ohne das Geld wegzulegen. Er schaut sich nach etwas um, in das er die Sachen packen kann, greift mit einer Hand nach der Aktentasche und macht sie auf. Annes Tagebücher fallen auf den Boden, Papierblätter flattern hinterher. Sie wirbeln und schwanken und segeln durch einen Strahl honigfarbenen Lichts, der durch eines der Fenster dringt. Keiner von uns, auch Anne nicht, schaut sie an, als wir das Hinterhaus verlassen und zum ersten Mal seit über zwei Jahren hinaustreten ins Tageslicht. Einen Moment danach umgibt uns die Dunkelheit eines Polizeiautos.
     »Ich denke, es lohnt einen Versuch«, sagte Dr. Gabor.
     »Es ist nicht nötig.« Meine Worte ließen die Wände des kleinen Sprechzimmers erzittern.
     Dr. Gabor richtete sich erschrocken auf. Er hatte noch nie meine richtige Stimme gehört.
     Sobald ich an diesem Abend nach Hause kam, noch bevor ich die Treppe hinaufging, um Madeleine zu sagen, daß ich meine Stimme wiedererlangt hatte, ging ich zum Bücherregal im Wohnzimmer, um das Buch zu suchen. Ich lief hin und her, den Kopf nach einer Seite gebeugt, um die Buchrücken zu lesen, ich bückte mich zu den unteren Regalen, drehte den Hals, um etwas zu sehen. Faulkner, Fitzgerald, Forster, Frank. Ich blieb stehen. Sie hatte es in der Literatur eingeordnet.
     Ich nahm das Buch aus dem Regal, obwohl ich keine Ahnung hatte, was ich mit ihm anfangen würde. Anne starrte mich an. Die Augen weigerten sich zu glänzen. Die Augen waren anstößig. Ich wollte ihre Lider schließen. Statt dessen hob ich den Arm und legte das Buch ganz oben ins Regal, außer Reichweite meiner Töchter, sogar zu hoch für Madeleine.

    »Was ist passiert?« fragte Madeleine.
    »Ich habe keine Ahnung«, sagte ich.
     »Vielleicht war es etwas, was Dr. Gabor gesagt hat«, schlug sie beim Abendessen vor.
     »Vielleicht«, stimmte ich zu.
     Als ich nach dem Essen ins Wohnzimmer ging, lag das Buch noch immer oben in dem Fach, in das ich es gelegt hatte. Ich konnte nicht anders, ich mußte hinschauen, wenn ich durch das Zimmer ging. Ich spürte, wie es hinter mir lauerte, als wir fernschauten. Ich hörte das leise Murmeln, das es von sich gab. Erzähl uns etwas, Peter. Erzähl uns, wie die Welt ohne uns weitergeht.
     Es lag da, als ich am

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