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Der Junge, der Anne Frank liebte

Der Junge, der Anne Frank liebte

Titel: Der Junge, der Anne Frank liebte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ellen Feldmann
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nächsten Morgen hinunterkam, und auch am Abend, als ich zurückkehrte, und auch am nächsten Tag. Es war wie ein früherer Freund oder entfernter Verwandter, der Pech gehabt hat, den du in bester Absicht mit nach Hause gebracht hast und der dich jetzt ärgert. Und wie jener unwillkommene Gast folgte es mir, bat um Aufmerksamkeit, hungrig nach Beruhigung, sehnsüchtig nach irgend etwas, obwohl ich nicht hätte sagen können, wonach.
     Es beobachtete mich an jenem Samstagnachmittag, als Madeleine mich mit den Mädchen allein ließ, weil sie einen neuen Toaster kaufen wollte, denn es war mir nicht gelungen, den alten zu reparieren. Irgend etwas war anders geworden. Ich hatte plötzlich lauter linke Daumen. Madeleine neckte mich damit. »Wenn ich jemanden gewollt hätte, der nichts reparieren kann, hätte ich mir einen jüdischen Ehemann ausgesucht.« Sie kam hinunter zu meiner Werkbank, legte die Arme um meinen Hals und küßte mich auf den Kopf. Der Toaster war ihr egal, sie war überglücklich über meine zurückgekehrte Stimme. Der Verlust meiner Stimme hatte sie stärker beunruhigt, als sie es zugegeben hatte.
     An dem Nachmittag, als sie einkaufen ging, saß ich auf dem Sofa, das eine Auge auf die Zeitung gerichtet, das andere auf meine Töchter. Abigail backte an ihrem kleinen, rosafarbenen Herd, den ihr meine Schwiegermutter zum Geburtstag gekauft hatte, einen imaginären Kuchen für mich. Betsy summte für ihre Spielsachen eine Wundergeschichte. Meine Kinder sind immer noch eine Quelle des Staunens für mich. Die Ehrfurcht war seit damals, als ich Abigail aus dem Krankenhaus nach Hause gebracht hatte, nicht geringer geworden.
     Madeleine war an jenem Abend früh schlafen gegangen. Sie war erschöpft und würde in ein paar Stunden aufstehen müssen, um das Baby zu stillen. Doch ich war in das Zimmer zurückgegangen, das noch immer nach frischer Farbe roch, um einen letzten Blick auf die Kleine zu werfen, bevor ich ins Bett ging. Ich mußte sie noch einmal sehen. Ich mußte mich versichern, daß sie wirklich da war.
     Ich hatte sie nur kurz anschauen und dann gleich gehen wollen, aber der Anblick meiner Tochter hielt mich zurück. Einige Minuten lang stand ich da und starrte auf sie hinunter. Schließlich zog ich mir den Schaukelstuhl zum Bettchen, setzte mich und schob meine Arme durch das Gitter. Sollte ihre Haut so warm sein? Sie zog ihre winzigen Beine zur Brust. Sie spitzte die Lippen. Ihre Hand schloß sich um meinen Finger. Genausogut hätte sie einen Schlüssel im Schloß des Kinderzimmers umdrehen können. Ich konnte den Raum nicht mehr verlassen. Ich konnte noch nicht einmal meinen Finger zurückziehen. Sogar nachdem ihr Fäustchen sich entspannte, war ich noch ein Gefangener. Dieses Päckchen menschlichen Lebens, dieses lebendige Ding da war aus demselben Material wie ich. Ich konnte dieses Wunder noch nicht fassen. Bis heute kann ich es nicht. Betsys Ankunft hatte dieses Gefühl nur noch intensiviert. Ich war gebunden.
     Als ich mit geübtem Blick meine Töchter an diesem Nachmittag nicht aus den Augen ließ, zog das oberste Fach für einen Moment meine Aufmerksamkeit auf sich. Das Buch schien zu vibrieren.
     Ich beobachtete es, wie festgeklebt an meinen Platz, unfähig, mich von der Stelle zu rühren. Das Buch bewegte sich kreisend vor und zurück. Es schwankte auf der Kante. Es begann zu fallen. Die Entfernung zwischen dem obersten Fach und dem Boden dehnte sich. Das Buch nahm an Geschwindigkeit und Kraft zu. Ich hätte mir nicht eingestehen können, daß ich mir etwas einbildete. Das Buch fiel immer noch. Es war ein Felsbrocken, der niederstürzen würde, ein Meteorit, direkt über meinen Kindern.
     Ich befreite mich aus der Umklammerung des Sofas und machte einen Satz auf meine Töchter zu. Abigails Kopf drehte sich nach oben, mit schreckerfülltem Gesicht. Betsy begann zu schreien. Ich hob sie hoch, mit jeder Hand eine, und drückte ihre überraschend festen Körper an mich. Ich schaute hoch. Das Buch lag noch immer im obersten Fach.

    Ich mußte es aus dem Haus bekommen, aber mir fiel nicht ein, was ich mit ihm tun könnte. Verbrennen ging nicht. Das hatten sie mit den Büchern getan. Ich konnte es auch nicht in den Müll werfen. Das hatten sie mit uns getan.
     Am Montagmorgen nahm ich es vom Regal und brachte es hinaus ins Auto. Ich hatte nicht vor, damit herumzufahren, während es neben mir auf dem Beifahrersitz lag, mein ungebetener Mitfahrer, meine unwillkommene Vergangenheit, aber

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