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Der Junge, der Anne Frank liebte

Der Junge, der Anne Frank liebte

Titel: Der Junge, der Anne Frank liebte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ellen Feldmann
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sich anschreien.
     »Ich werde den Mantel nicht verkaufen.«
     »Gut, dann werden wir in diesem Winter Kaninchenpelz essen.«
    »Du willst nur das Geld für deine Zigaretten ausgeben.«
     »Du willst nur mehr Kleider nach dem Krieg kaufen. Nach dem Krieg! Was sollen wir essen bis nach dem Krieg?«
     Aber sie haben sich versöhnt. Sie haben sich immer versöhnt. Er tritt hinter sie, während sie das Geschirr im Ausguß spült, legt die Arme um sie und nimmt ihre melonenförmigen Brüste in seine nikotinbraunen Hände. »Nein«, schreit sie, und das Wort wird in ihrem Mund zu einem Ja. »Kerli«, flüstert er ihr ins Ohr. Und sie tanzen mit Walzerschritten zum Bett.
     Gierig, nennt Anne sie. O ja, sie sind gierig.
     Ich wende Seite um Seite, hungrig nach Neuigkeiten von uns. Ein Eintrag läßt mich innehalten.
      Peter war sehr schüchtern, aber dann ließ er doch heraus, daß er seine Eltern gerne mal zwei Jahre lang nicht sehen möchte.
     Ich stolpere im Hinterhaus herum, von einer feuchten Wand zur anderen. Ich ersticke hier. Ich bin zu groß für die niedrigen Decken und zu engen Zimmer, ich bin zu stark für meine schrecklich hilflose Mutter und meinen wütenden, kraftlosen Vater. Und bestimmt bin ich zu alt, um von beiden geschlagen zu werden. Meine riesigen Füße machen zu viel Lärm. Meine langen Arme stoßen dauernd etwas um. Ich habe Angst, sie alle zu zerquetschen. Ich träume davon, sie alle zu zerquetschen.
     Ich streckte die Hand nach einem Päckchen Zigaretten aus, das Harry auf dem Beifahrersitz vergessen hatte. Das Buch in einer Hand, schüttelte ich mir eine Zigarette heraus und drückte den Anzünder. Ich hatte nicht einmal gemerkt, was ich tat, bis ich inhalierte. Der Geruch meines Vaters umhüllte mich. Ich konnte kaum atmen. Ich drückte die Autotür auf, um ein bißchen Luft zu bekommen. Das Buch rutschte mir vom Schoß auf den Boden. Anne starrte mich nun von dem geteerten Parkplatzbelag an. Ich hob sie hoch, wischte ihr den Schmutz vom Gesicht und machte die Autotür wieder zu. Ihre unbeweglichen Augen starrten mich aus ihrem ewig kindlichen Gesicht an.
     »Die Erwachsenen sind genauso neidisch, weil wir jung sind«, flüstert sie, als wir die Treppe zum Dachboden hinaufsteigen.
     Aber sie sind jünger als wir, zumindest unschuldiger. Außerhalb des Hinterhauses fallen Bomben und marschieren Mörder durch die Straßen, und Lastwagen bringen ihre Fracht ostwärts, während drinnen die Eltern, die nie etwas mit eigenen Augen gesehen haben, sich darüber einig sind, daß Anne und ich unsere Abende nicht zusammen verbringen sollten, allein im Dunkeln.
     Und Otto, der noch immer der alten Sittsamkeit vertraut – ich war im letzten Krieg Offizier in der deutschen Armee, wird er später zu dem Mann von der Grünen Polizei sagen, ehe diese Bestie unsere Wertsachen in eine Aktentasche stopft –, nimmt mich zur Seite und spricht von Rosenpfaden der ersten Liebe und wie eines zum anderen führt und daß wir uns aufbewahren sollen für die Zukunft, zumindest Anne.
     Zukunft? Was für eine Zukunft? will ich ihn fragen, aber ich tue es nicht, denn ich möchte so gerne glauben, daß er recht hat. Trotzdem steigen Anne und ich weiterhin hinauf auf den Dachboden, wo wir in der Dunkelheit sitzen, die ersten Boten des Frühlings einatmen, die üblen Gerüche, die vom Kanal vor dem Haus aufsteigen, und uns für ein reines Leben zurückhalten. Wenn Gott sie am Leben läßt, sagt sie im Schutz der Nacht, will sie mehr erreichen, als ihre Mutter es getan hat, sie will ihre Stimme hören lassen und für die Menschheit nützlich sein. Wenn ich überlebe, sage ich ihr, will ich nach Niederländisch Ostindien gehen und etwas aus mir machen. Doch allmählich hören wir auf zu reden und betreten mit zögernden Schritten Ottos Rosenpfad. Ich fühle, wie ihr kindlicher Körper in meinen Armen älter wird, das Leben schrillt in meinen Ohren, oder vielleicht sind es auch nur die Luftangriffsirenen.
     Ich schließe die Augen, doch Anne und mein Vater und meine Mutter und alle anderen, sogar der arme Pfeffer, sind hinter meinen Lidern eingebrannt. Es gibt kein Entkommen. Ich mache die Augen auf. Wassertropfen bedecken Annes Gesicht und den dunklen Buchumschlag. Es hat angefangen zu regnen. Ich strecke die Hand aus, um das Fenster wieder hochzudrehen.
     Aber es ist gar nicht offen. Ich hebe den Blick. Die Sonne hängt wie ein angelaufene Münze über dem Supermarkt.
     Ich nehme ein Taschentuch aus der Tasche,

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