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Der Junge, der Anne Frank liebte

Der Junge, der Anne Frank liebte

Titel: Der Junge, der Anne Frank liebte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ellen Feldmann
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das Lachen meiner Mutter meine Stimme ersterben ließ. Ich war den Erinnerungen, die das Tagebuch in mir wachrief, nicht gewachsen. Ich konnte der Anziehung all dieser Geister nicht widerstehen. Sie entstiegen den abgegriffenen, grobporigen Seiten, legten ihre Arme um meinen Hals und zogen mich keuchend und lachend und schluchzend zurück in ihr Leben, zurück in eine Zeit, in der sie noch am Leben gewesen waren.
     Meine Mutter krümmt einen beringten Finger. Erinnerst du dich noch an den Abend, als ich dir die Haare geschnitten habe, flüstert sie, und wir tanzen im Zimmer herum, ich in meiner Badehose und in Tennisschuhen, sie in einem geflickten, bunt bedruckten Kleid, meine Hände umklammern ihre Handgelenke, sie fuchtelt im Spaß mit den Armen. Sie lacht und weint und schreit mich an, ich solle sie loslassen, und ich ziehe und zerre sie im Zimmer herum, halb im Spaß, halb im Ernst, erschrocken über die Kraft, die für einen Moment die andere Gewalt überschwemmt, die, unter der wir leben.
     Mein Vater ruft mir zu, ich solle das Buch zurückgeben, nicht das Buch, über das ich mich in dem staubbedeckten Auto beuge, sondern ein anderes Buch, weil ich noch zu jung bin, um von solchen Dingen etwas zu wissen – obwohl ich nicht zu jung bin, mit ihm und Herrn Frank hinunter ins Büro zu gehen, in der Hand den Hammer, für den Fall, daß wir den Einbrecher treffen –, und er reißt mir jenes andere Buch, das über Penisse und Vaginen und Geschlechtsverkehr, aus der Hand, und wir schubsen und schlagen und treten, und er verflucht mich und schickt mich ohne Essen auf den Dachboden, und ich sitze dort und lausche auf das dumpfe Knurren meines leeren Magens und darauf, wie sie unten essen und sich unterhalten, ich höre das Klirren des Geschirrs unter mir und wünsche ihm den Tod, obwohl ich weiß, daß das unter diesen Umständen eine unmäßige Vorstellung ist. Er ist ein Dummkopf, schwadroniere ich in Gedanken, er ist ein noch größerer Dussel als Pfeffer. Pfeffer hat seinen Sohn wenigstens nach England geschafft.
     Doch ein andermal knien mein Vater und ich nebeneinander, während wir das Gitter an der Vorratskiste befestigen, die wir bauen, und unsere Schultern berühren sich. Und Herr Frank, der mir zwar beim Englischlernen hilft, aber nichts Praktisches herstellen kann, steht daneben und schaut zu. Mein Vater sagt leise, als wäre das ein Geheimnis, das wir vor den anderen bewahren müßten, die nicht verstehen, wie man überhaupt etwas bauen kann: Gut gemacht, Peter, gut gemacht.
     Ich saß auf dem Supermarktparkplatz und hörte das Flüstern meines Vaters, während ich das Buch anstarrte, das vor mir auf dem Lenkrad lag. Es war ein wenig beschädigt, der Einband vom Sturz auf die Eisenbahnschwellen gebrochen, ein paar Seiten eingerissen. Ich streckte die Hand aus, öffnete das Handschuhfach und nahm eine Rolle Tesafilm heraus. Und so, wie ich Abigails Knie pflasterte oder Betsys Popo küßte, begann ich, die Wunden des Buchs mit Pflaster zu bekleben. Ich summte bei der Arbeit vor mich hin. Madeleine sagt, ich würde oft bei der Arbeit summen, was ich nicht merke. Doch in diesem Moment nehme ich es wahr. Ich summe Mozart. Die kleine Nachtmusik erfüllt das Auto, und ich bin wieder mit Anne auf dem Dachboden. Es ist der Abend des Ostersonntags, der zweite Ostersonntag, den wir dort verbringen, der letzte, den wir dort verbringen werden, und wir lauschen der Musik aus dem Radio, während der Kastanienbaum draußen gehässig den kommenden Frühling verheißt.
     Ich beendete mein Werk und blätterte wieder weiter in dem Buch.
     Es ist der Geburtstag meiner Mutter, und mein Vater gibt Miep Geld, in der Hoffnung, sie würde rote Nelken finden, sein traditionelles Geschenk für sie. Meine Mutter schreit auf vor Entzücken über die rote Glut in unserem grauen Leben und wirft meinem Vater die Arme um den Hals, sie küßt ihn innig auf den Mund, doch jetzt wende ich mich nicht angeekelt ab, wie ich es damals getan habe, ich kneife die Augen zusammen, um genauer hinzusehen. Wie jung sie sind, meine Mutter drall und geschäftig, mit weit offenem Mund, bereit, ein Stück aus dem Leben zu beißen, mein Vater groß, tapfer, eingehüllt in Zigarettenrauch und abgedroschene Witze erzählend. Was macht neunhundertneunundneunzigmal Klick und einmal Klack? Ein Tausendfüßler mit einem Klumpfuß. Haben sie sich geliebt? Haben sie in diesem miserablen, unpersönlichen Hinterhaus miteinander geschlafen?
     Ich höre, wie sie

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