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Der Junge, der Anne Frank liebte

Der Junge, der Anne Frank liebte

Titel: Der Junge, der Anne Frank liebte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ellen Feldmann
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mir würde schon noch einfallen, was ich mit ihm tun könnte.
     Es war noch immer da, als ich abends aus dem Büro kam. Die großen dunklen Augen starrten mich an. Ich drehte das Buch um. Die Rückseite war bedeckt mit einer engen Handschrift. DAS IST EINE SEITE AUS DEM TAGEBUCH VON ANNE FRANK. Die niederländischen Worte liefen wie Insekten über die Seiten. Ich machte das Handschuhfach auf, schob das Buch hinein und knallte die Klappe zu.
     Die Idee kam mir, als ich am Bahnhof vorbeifuhr. Ich bog hastig, unüberlegt, auf den Parkplatz ein. Ich würde es nicht zerstören. Ich würde es jemandem geben.
     An einer Seite waren eine Reihe leerer Autos geparkt. Die andere Seite, näher an den Gleisen, wo sonst Frauen hinter Lenkrädern saßen, sich die Nägel feilten oder Zeitschriften lasen oder zu ihren Kindern auf dem Rücksitz sagten, sie sollten aufhören zu streiten, während sie auf ihre zurückkehrenden Männer warteten, war leer. Auf dem Bahnsteig war kein Mensch zu sehen. Es war die Zeit zwischen zwei Zügen.
     Ich stellte mich auf einen der Plätze nah an den Gleisen, holte das Buch aus dem Handschuhfach und stieg aus. Ich konnte nicht verhindern, daß ich mich umschaute, obwohl nichts Unrechtes daran war, ein Buch für irgendeinen gelangweilten Pendler oder neugierigen Passagier zurückzulassen. Ich sprang die Stufen zum Bahnsteig hinauf. Dabei fühlte ich mich leichter, als ich mich seit Tagen gefühlt hatte. Als ich oben an der Treppe angekommen war, war ich gewichtslos. Das muß der Grund gewesen sein, warum ich es getan habe. Einen anderen finde ich nicht. Es war nicht das, was ich vorgehabt hatte.
     Ich lief schnell, doch statt zu einer der Bänke zu gehen, wandte ich mich den Gleisen zu. Zur Seite gedreht, wie ein Pitcher kurz vor dem Wurf, bog ich den Arm zurück, schnellte ihn vorwärts und ließ das Buch fliegen. Es segelte hoch über die Gleise, gewichtslos und frei war es, es streifte die Kante des gegenüberliegenden Bahnsteigs und fiel zu Boden. Ich hörte den dumpfen Aufschlag, als es auf dem Gleis landete. Aufgeklappt blieb es zwischen den Schwellen liegen.
     Ich starrte es an. Ich hatte es nicht zerstören wollen. Ich hatte es nur aus dem Haus haben wollen. Mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf schlich ich zum Auto zurück. Als ich den Parkplatz kurz darauf verließ, bog gerade ein anderes Auto ein. Ich drehte das Gesicht weg.

    Als ich zwanzig Minuten später das Wohnzimmer betrat, wanderten meine Augen sofort zum obersten Regal. Der leere Platz zwischen den Büchern war ein gähnendes Loch. Der Platz vergrößerte sich im Laufe des Abends. Ich fühlte diese Leere wie den physischen Hunger, von dem ich gedacht hatte, er würde nie weggehen.
     Es war nach zehn, als ich aufstand und zu Madeleine sagte, ich hätte einige Papiere im Büro vergessen und müsse noch mal hinfahren, um sie zu holen.
     »Warum fährst du dann morgen nicht einfach ein bißchen früher?« In ihrer Stimme lag nicht die Spur von Mißtrauen. Ich war ein guter Ehemann, ein liebender Vater, ein anständiger Mann, keiner von denen, die nächtlich Ausflüge machen. Alles, was ich mir wünschte, war hier in diesem Haus.
     Ich sagte ihr, ich würde schnell wieder da sein, ging hinauf, um meinen Autoschlüssel zu holen, und schnappte mir auf dem Weg nach draußen eine Taschenlampe. »Um die Lichtschalter im Haus zu finden«, sagte ich, bevor sie fragen konnte.
     Diesmal war der Parkplatz vollkommen leer. Das Öffnen und Schließen der Autotür hörte sich an, als würde jemand in der Dunkelheit stöhnen.
     Ich nahm zwei Stufen auf einmal, ich hatte keine Zeit zu verlieren. Ich knipste die Taschenlampe an und ließ den Lichtstrahl über die Schwellen wandern. Es dauerte ein bißchen, bis ich es gefunden hatte, obwohl es genau da lag, wo es gelandet war, auf den Schwellen zwischen den Gleisen.
     Ich ging zum Bahnsteigrand. Der Tritt hinunter zu den Gleisen war nicht hoch. Ich sprang. Mein Knöchel knickte ein, als ich den Boden berührte, meine Knie gaben nach. Fast wäre ich gestürzt, aber ich gewann mein Gleichgewicht wieder.
     Ich lief über die Schienen, folgte dem Lichtstrahl der Taschenlampe. Unter meinen Schuhen rollten die Steine. Der Lichtkegel zitterte und kreiselte in der Dunkelheit. Ein Schatten huschte durch das Licht. Augen glitzerten auf. Ein nackter Schwanz glitt vorbei. Die Narbe von dem Rattenbiß auf meinem Arm pochte, obwohl sie mir nie zuvor Schwierigkeiten gemacht hatte.
     Ich bewegte mich

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