Der Junge, der Anne Frank liebte
oft zusammen zu Nachmittagsveranstaltungen, ohne ihre Ehemänner. Weder Norman noch ich mögen den Kampf mit dem Verkehr, um in die Stadt zu kommen, wir mögen auch nicht das Essen hinunterschlingen, um es rechtzeitig zum Theater zu schaffen, nur um in einem überhitzten Raum zu sitzen, die Mäntel auf dem Schoß und die Knie unter dem Kinn – Norman ist fast so groß wie ich –, und zweieinhalb Stunden lang den Knoblauchatem von irgendeinem französischen Dinner im Nacken zu spüren.
Susannah hatte versucht, Norman für dieses Stück zu einer Ausnahme zu überreden, aber Norman hatte hartnäckig behauptet, daß kein gesunder Mann einen Samstagabend damit verbringen wolle, acht Schauspielern dabei zuzuschauen, wie sie anderen vormachen, in ein paar luftlosen Zimmern eingesperrt zu sein und auf den Tod zu warten. Ich stimmte Norman zu. Wir mochten auch beide Tennessee Williams nicht, einen der Lieblingsautoren unserer Frauen. Wir konnten all diese unglücklichen Leute nicht ertragen, die sich gegenseitig quälten, die mit einem schwer verständlichen Dialekt sprachen und sich völlig unvernünftig verhielten.
Im Gegensatz zu ihrer Schwester hatte Madeleine nicht versucht, mich zu überreden, mir Das Tagebuch der Anne Frank anzuschauen. Sie wußte nichts Genaues über mein Leben während des Kriegs, nur daß ich in Amsterdam irgendwie überlebt hatte, eine harte, aber nicht unmögliche Situation für einen Nichtjuden, und dann in Auschwitz gelandet war, weil ich nicht bereit war, das Loyalitätsgelübde zu unterschreiben, welches das Deutsche Reich von allen niederländischen Studenten verlangte. Ich hatte ihr gegenüber nie gesagt, daß dies der Grund gewesen wäre, obwohl ich dieses Gelübde erwähnt hatte, aber je mehr sie sich über die McCarthy-Verhöre empörte, um so glaubwürdiger erschien es ihr. Mein Mut begeisterte sie, meine Verrücktheit beunruhigte sie, und der Gedanke an beides überzeugte sie, daß ein Stück über Amsterdam während der Besatzungszeit mich wohl zu sehr aufregen würde. Sie hatte unrecht. Sicher, ich hatte sehr heftig reagiert, als ich das Buch zum ersten Mal sah, aber das ist Jahre her. Das Stück war mir ferner. Ich würde die Figuren kaum erkennen. Ich würde höchstens eine Antipathie gegen die Schauspieler entwickeln, die diese Rollen spielten. Ein paar Jahre später, als ein Stück über Franklin Roosevelt, das Sunrise at Campobello hieß, gespielt wurde, fragte ein Reporter Eleanor Roosevelt, was sie davon hielt. Sie sagte, es sei eine unterhaltsame Show gewesen, aber es habe nichts mit irgend jemandem, den sie kenne, zu tun. Dieses Gefühl hatte ich, ohne es gesehen zu haben, zu dem Tagebuch der Anne Frank.
»Es war phantastisch«, sagte Madeleine jetzt. Phantastisch ist nicht gerade ein Wort, das meine Frau regelmäßig benutzt, und es zeigte mir, zusammen mit dem Stakkato, mit dem sie es vorbrachte, und der aufrechten Haltung, mit der sie am Küchentisch saß, während die Kinder aßen, daß ein Teil von ihr immer noch im Cort Theater war und Joseph Schildkraut als Otto Frank und Gusti Huber als Frau Frank und Susan Strasberg als Anne sah. Peters Rolle wurde von einem Schauspieler namens David Levin gespielt. Ich wollte das Stück nicht sehen, aber irgendwie hatte ich eine Menge Informationen darüber gesammelt. Ich war sogar einmal am Theater vorbeigegangen, als ich abends in der Stadt zu tun gehabt hatte, ich weiß nicht mehr, was es war. Die schwarzen Buchstaben wanderten über die Neonreklame. Während ich sie anstarrte, trat ein Mann auf mich zu. »He, du!« Meine Hände ballten sich zu Fäusten, noch bevor ich mich umgedreht hatte. Er hatte eine Schweineschnauze als Nase. »Zwanzig Dollar«, flüsterte er. »Fünfte Reihe Mitte. Ein Schnäppchen.« Meine Hände lockerten sich. Der Mann war kein Schläger, nur ein Kartenspekulant. Ich sagte, ich sei nicht interessiert, aber als ich mich umgedreht hatte und die Forty-eighth Street hinunterging, konnte ich nicht anders, ich mußte über diesen Irrsinn lachen. Zwanzig Dollar für eine Karte, die vier achtzig wert war. Anne wäre stolz gewesen.
Ich brachte meinen Mantel zum Garderobeschrank. Madeleine stand auf und folgte mir.
»Es war herzergreifend.« Ein weiteres Wort, das sie nicht jeden Tag in der Woche benutzte.
»Das kann ich mir denken«, sagte ich und ging zurück in die Küche. Sie lief mir nach.
»Aber es gab auch sehr lustige Szenen.«
Es war also eine Komödie.
Ich nahm ein Glas aus
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