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Der Junge, der Anne Frank liebte

Der Junge, der Anne Frank liebte

Titel: Der Junge, der Anne Frank liebte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ellen Feldmann
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gehabt hatte. Sie wäre sogar entzückt gewesen. Ich war nicht nur ein Jude. Ich war Anne Franks Jude. Aber ihr das jetzt zu erzählen, würde bedeuten, zu dem allen zurückzukehren. Das konnte ich nicht.
     »Du hast nicht das gesehen, was ich gesehen habe«, war alles, was ich sagte.
     Wieder sah sie aus, als hätte ich sie geschlagen, doch diesmal antwortete sie nicht. Sie konnte nicht mit meiner Vergangenheit diskutieren.
     »Wir sprechen noch darüber«, wiederholte ich, obwohl ich mich schon entschieden hatte, daß wir es nicht tun würden. Wenn ich meinen Sohn nicht schützte, wer würde es dann tun?
     Ich holte das Samtkästchen aus meiner Tasche und hielt es ihr hin. Sie machte keine Anstalten, es zu nehmen. »Mach es auf«, sagte ich. Sie saß da und starrte es an. Sie war zu erschöpft, um die Schachtel zu öffnen. Ich tat es für sie. Die Diamantnadel blitzte von dem schwarzen Satinfutter. Sie war so überwältigt, daß sie anfing zu weinen.

    Das Haus war dunkel. Mir war nie aufgefallen, wie sinister es nachts aussah. Ich vermißte die bernsteinfarbenen Höhlen, die von den Fenstern in die Nacht geschnitten wurden. Ich sehnte mich nach dem Wissen, daß meine Frau und meine Kinder im Haus waren.
     Als ich in die Auffahrt einbog, glitt mein Scheinwerferlicht über die Büsche. Etwas, vielleicht die Katze der Nachbarn oder ein Waschbär, lief durch den Lichtstrahl und verschwand in der Dunkelheit.
     Ich stellte mein Auto neben Madeleines Kombi ab und ging durch die Hintertür. Die Stille war so dicht wie die Dunkelheit. Susannah hatte die Kinder geholt, sie würden heute nacht bei ihr schlafen. Jetzt tat es mir leid, daß ich diesem Arrangement zugestimmt hatte.
     Je eher ich Madeleine und die Mädchen und David unter meinem Dach hätte, um so glücklicher würde ich sein.
     Ich ging durch das Haus und machte die Lichter an. Dann hängte ich meinen Mantel in den vorderen Schrank, zog Jackett und Krawatte aus und nahm ein Glas aus dem Schrank und Eis aus dem Kühlfach. Ich bin kein Trinker. Ich trinke einen Whiskey mit Geschäftsfreunden, wenn es nötig ist. Ich bin bekannt dafür, daß ich bei Hochzeiten und anderen Familienfesten ein bißchen heiter bin. Ich bin einem Cocktail nicht abgeneigt, wenn wir essen gehen oder bei ähnlichen Anlässen. Aber ich gehöre nicht zu den Männern, die, wenn sie abends nach Hause kommen, direkt zur Hausbar gehen. Heute abend hatte ich allerdings Grund zum Feiern. Ich hatte einen Sohn, einen unbeschnittenen Sohn, der nie irrtümlich für einen Juden gehalten werden würde, egal, was Madeleine sagte. Ich hatte die richtige Entscheidung getroffen.
     Ich ging zum Wohnzimmerschrank und holte die Flasche Chivas Regal heraus, die mein Schwiegervater immer mitbringt, wenn er uns besucht, obwohl er selbst nicht mehr trinkt als ich, und füllte das Glas zur Hälfte. Als ich es in die Küche trug, sah ich mein Spiegelbild in den langen Fenstern hinter der Sitzecke. Es war verschwommen. Ich hob das Glas als Toast auf meinen Sohn. Die Gestalt im Fenster hob ebenfalls die Hand. Wir tranken.
     Ich stellte das Glas auf die Anrichte und nahm die feuerfeste Kasserolle mit dem Braten und die Schüsseln mit Brechbohnen und Kartoffeln aus dem Kühlschrank. Denn genau wie Madeleine schon seit Wochen einen gepackten Koffer bereitstehen hatte, hatte sie dafür gesorgt, daß der Kühlschrank immer ausreichend mit allen möglichen Vorräten gefüllt war, damit ich in der Zeit, in der sie nicht dasein würde, zurechtkam. Mein Hunger war bescheidener geworden. Aber sein Ruf lebte fort.
     An die verschiedenen Töpfe waren Schildchen geklebt, um mir zu sagen, wie ich die Sachen aufwärmen solle. Ich befolgte die Anweisungen, dann ging ich zurück ins Eßzimmer und goß mir nach, während ich darauf wartete, daß mein Essen warm wurde. Dann häufte ich mir alles auf einen Teller und trug ihn zum Küchentisch. Ich habe an diesem Tisch nur selten allein gegessen, eigentlich immer nur ein paar Abende nach der Geburt meiner Töchter. Doch, es hatte noch ein anderes Mal gegeben, es dauerte einen Moment, dann fiel es mir wieder ein. Ich war mitten in der Nacht die Treppe heruntergekommen, hatte den halben Kühlschrank ausgeräumt und alles auf den Tisch gestellt. Madeleine war mir etwas später gefolgt. Ich konnte noch ihren Gesichtsausdruck sehen, als sie die Lamellentür aufmachte. Sie blinzelte und hob eine Hand zu ihrem schlafzerknitterten Gesicht, um sich gegen das grelle Licht zu schützen.

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