Der Junge, der Anne Frank liebte
können. Jedenfalls ist dieser Dussel wirklich eine Witzfigur, aber der dritte Mann, der andere Vater, dieser Herr van Daan, ist viel schlimmer.«
»Schlimmer, wieso?« Ich hätte mir auf die Zunge beißen können.
»Er war ein Dieb.«
Ich preßte den Löffel zwischen die Lippen meiner Tochter. Ihr Mund öffnete sich, um ihre Wut herauszulassen, die Gelegenheit, auf die ich gewartet hatte. Ich schob den Löffel hinein.
»Es ist die schrecklichste Szene überhaupt. Eines Nachts hört Frau Frank ein Geräusch und steht auf, und da ist Herr van Daan, der Vater des Jungen, in den Anne verliebt ist, und stiehlt Brot aus dem Schrank. Die ganze Zeit haben alle gedacht, es wären Ratten gewesen, aber in Wirklichkeit war es Herr van Daan. Dem eigenen Kind das Essen aus dem Mund zu stehlen. Kannst du dir das vorstellen?«
»Das ist nie passiert«, sagte ich über das Weinen meiner Tochter hinweg.
»Was?«
Ich schaufelte den Löffel wieder voll. »Ich meine, nein, ich kann mir so etwas nicht vorstellen. Aber vielleicht ist es gar nicht passiert. Es ist doch nur ein Theaterstück.«
»Trotzdem, es basiert auf dem Tagebuch.«
Meine Tochter quietschte. Ich stopfte weiter Essen in sie hinein.
»Das Tagebuch ist echt«, beharrte Madeleine. »Also muß dieser Vater es getan haben.«
Der Löffel fiel auf den Boden. Ich hatte ihn nicht hingeworfen. Er war mir aus der Hand geglitten.
»Verdammt, Madeleine, du hast einen Collegeabschluß. Hast du je von dichterischer Freiheit gehört?« Ich schob mich vom Tisch und stand auf. »Und während du dir Sorgen machst, was wer in einem Theaterstück ißt, achtest du nicht auf die eigene Tochter. Warum versucht du nicht, sie ordentlich zu füttern, statt dir über einen Haufen fetter, glücklicher Schauspieler Sorgen zu machen, die keine Ahnung davon haben, was Hunger ist?«
Es wäre schon schlimm genug gewesen, wenn ich sie nur gebremst hätte. Vielleicht hätte ich die erhobenen Gesichter anschauen sollen, die meiner Töchter mit Essen verschmiert, alle drei überrascht und ängstlich. Aber ich schaute meine Frau und meine Töchter nicht an. Ich starrte über ihre schmalen Schultern und über ihre glänzenden Köpfe hinweg und sah eine andere Gruppe, um einen anderen Tisch versammelt, Gesichter mit hohlen Wangen, die Haare stumpf von Schmutz und Unterernährung, mit vor Hunger schmerzenden Mägen. Ich blinzelte, um diese anderen Tischgäste zu vertreiben, aber sie gingen nicht fort.
»Genau wie du. Genau wie diese verdammte Familie. Auf dem Teller herumstochern, einwandfreies Essen in den Mülleimer werfen. Es macht mich krank«, schrie ich, als ich aus der Küche stürmte.
Ich ging hinunter ins Wohnzimmer und machte den Fernseher an. Grinsende Gesichter schauten mir entgegen. Münder klappten auf und wieder zu. Stimmen kreischten. Ich stellte den Ton leiser. Nun konnte ich ihre Stimmen in der Küche hören.
Madeleine hielt den Ton, während das Schluchzen meiner Töchter den Takt angab. »Daddy hat es nicht so gemeint. Mommy hat bloß dumme Sachen gesagt, das ist alles. Mommy hätte es besser wissen sollen. Daddy ist nicht böse auf euch.«
Ich stand auf und stellte den Fernseher wieder lauter.
Als ich ein paar Minuten später den Kopf hob, sah ich meine Töchter oben an der Treppe stehen. Ihre Augen waren harte Murmeln vor Mißtrauen, ihre Münder argwöhnische Schlitze.
»Kommt«, sagte ich, »kommt her und leistet mir Gesellschaft.«
Betsy, die Abenteurerin, kam zögernd eine Stufe herunter. Abigail, nicht dumm, blieb, wo sie war.
Ich breitete beide Arme weit über der Rücklehne des Sofas aus, als doppelte Einladung. »Kommt doch«, wiederholte ich. Betsy machte einen zweiten Schritt. Abigail bewegte sich nicht.
»Bitte, bitte«, bat ich.
Betsy kam noch eine Stufe herunter.
»Und noch ein Bitte mit Schlagsahne obendrauf.«
Sie nahm die letzten beiden Stufen und rannte durch das Zimmer zum Sofa. Abigail wartete, bis ihre Schwester sich in meinen Arm gekuschelt hatte. Sie war wachsam, meine Erstgeborene. Erst als sie sicher war, daß es sich nicht um einen Trick handelte und ich mich nicht wieder in ein Monster verwandeln würde, folgte sie ihrer Schwester durch das Zimmer und setzte sich an meine andere Seite. Ich legte die Arme um ihre Schultern und zog sie an mich. »Es ist in Ordnung«, sang ich über den Ton aus dem Fernseher hinweg. »Alles wird wieder gut.« Das waren die Worte eines Vaters, obwohl mein Vater
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