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Der Junge, der Anne Frank liebte

Der Junge, der Anne Frank liebte

Titel: Der Junge, der Anne Frank liebte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ellen Feldmann
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Ihre Augen wurden schmal, als sie dieses absurde Bankett sah. Ihr Blick wanderte über den Tisch und hielt inne, als er das Glas Babynahrung erreichte. Ich sagte etwas Ähnliches wie, daß ich geglaubt hätte, es wäre normales Apfelmus, und brachte das Glas zurück in den Kühlschrank. Aber es war zu spät. Ich wußte, was sie dachte. Was für ein Mensch ißt den eigenen Kindern das Essen weg? Sie konnte sich das nicht vorstellen. Die Kühlschränke ihrer Kindheit waren immer voll mit Obst und fetter Milch und Resten, die verdarben und weggeworfen wurden. Im Hinterhaus hätten wir eine Woche von den Resten leben können, die meine Schwiegermutter an einem Tag aus ihrem Kühlschrank wegwarf. Für meine Frau bedeutete Hunger, daß sie ein Mittagessen versäumt hatte, Hungern nannte man eine Diät, um abzunehmen. Der Anblick meines Hungeranfalls in jener Nacht hatte sie schockiert. Ihre Augen waren schmal geworden, ihr Mund hatte sich vor Abscheu verzogen, und sie hatte mich angeschaut, als wäre ich ein Fremder. Genau wie sie mich an diesem Abend im Krankenhaus angeschaut hatte, als ich sagte, ich wolle unseren Sohn nicht beschneiden lassen, weil ich nicht riskieren wollte, daß man ihn irrtümlich für einen Juden hielt.
     Ich stand auf und nahm meinen Teller. Ich hatte geglaubt, keinen Hunger zu haben, aber plötzlich wollte ich mehr. Ich hatte das Gefühl, als könnte ich den ganzen Fleischbrocken essen, der für eine Woche reichen sollte. Als ich zurückkam, sah ich wieder mein Spiegelbild im Fenster des Eßzimmers. Eben war es noch ein junger Mann gewesen, ein frischgebackener Vater, der mir zugeprostet hatte. Nun schaute mich ein alter Mann mit hängenden Schultern und eingefallenem Gesicht unter schweren Augenlidern an. Wann hatte ich angefangen, meinem Vater ähnlich zu werden?
     Ich straffte die Schultern und hob mein Kinn, aber ich konnte noch immer die verhüllten Augen meines Vaters in dem dunklen Glas sehen. Die störrische Linie um den Mund war auch von ihm. Ich nahm einen weiteren Schluck meines Drinks. Der Mann, der meinem Vater ähnlich sah, trank ebenfalls. Herzlichen Glückwunsch, sagte ich und verbeugte mich. Er erwiderte die Verbeugung. Etwas Schönes, sagte ich zu ihm, und er stimmte zu. Ein Sohn. Um den Namen zu tragen, den ich nicht verändert hatte, versicherte ich ihm. Der Name, den ich gar nicht hätte ändern müssen, erinnerte er mich.
     David van Pels, beharrte ich.
     David van Pels, wiederholte die Gestalt im Fenster. Wir hoben beide eine Hand und wischten uns mit dem Handrücken über die Augen.
     Bis auf eines.
     Ich wußte, was kommen würde. Aber ich hatte meiner Frau nicht nachgegeben, also würde ich auch vor diesem Produkt meiner Einbildungskraft nicht kapitulieren. Ich wußte, daß er nicht mehr als das war. Ich war nicht einer dieser zerstörten, verschreckten Menschen, die schnell die Straßenseite wechseln, wenn sie einen Polizisten sehen, und wie gelähmt stehenbleiben, wenn sie eine Sirene hören, und die die Anwesenheit von Toten halluzinieren. Der Terminus für diesen Zustand, natürlich auf deutsch, ist »verfolgungsbedingt«. Das bedeutet, daß die Schwierigkeiten eines Menschen, egal welcher Art, das Resultat der individuellen Leiden durch die Hand der Nazis sind. Es bedeutet auch, daß der arme Kerl berechtigt ist, durch die deutsche Regierung finanziell entschädigt zu werden. Das ist es, warum »verfolgungsbedingt« so schwer zu beweisen ist. Ich hatte einiges über die Regelungen für die deutschen psychiatrischen Gutachter gelesen. Depressionen? Was hat das mit der Tatsache zu tun, daß man jede Woche, endlose Monate lang, in einer Reihe mit anderen fünfzehnjährigen Mädchen stand und beim Abzählen, acht, neun, zehn, elf, nicht wußte, an welchem Tag man durch irgendeinen Zufall zum Tod bestimmt sein würde? Halluzinationen? Was soll das damit zu tun haben, daß Sie gezwungen wurden, der Erschießung Ihres Vaters, Ihrer Mutter, Ihres älteren Bruders und Ihrer drei Schwestern beizuwohnen?
     Ich kann es nicht zulassen, sagte ich. Es ist zu gefährlich.
     Ich dachte, du bist jetzt in Amerika. Dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Dem Heim der Freien und Mutigen. Dem Land der beschnittenen Penisse.
     Bin ich. Ich bin jetzt ein amerikanischer Bürger. Wir alle sind es. Die ganze Familie.
     Dann erzähl mir doch, wofür es gut sein soll, wenn du so lebst wie früher in unserem stinkigen Hinterhaus? Erzähl es mir, mein großer, erfolgreicher Sohn mit

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