Der Junge, der Anne Frank liebte
mich nie mit ihrer Hilfe belogen hatte.
Als ich eine halbe Stunde später die Stufen zur Küche hinaufging, stand Madeleine an der Spüle, mit dem Rücken zur Tür. Sie hatte die Jacke ihres Kostüms ausgezogen und trug eine Schürze über ihrem Rock und ihrer Bluse. Ein hochhackiger Schuh lag auf der Seite, ihr Gewicht ruhte auf dem bestrumpften Fuß, wodurch eine Hüfte höher war als die andere. Diese Stellung wirkte spitzbübisch, aber ich wußte, daß sie das nicht beabsichtigte.
»Soll ich dir deine Hausschuhe holen?«
Sie schüttelte den Kopf. Die Locken ihres Pudelhaarschnitts rutschten über ihren Kragenrand.
»Es tut mir leid.«
Sie antwortete nicht.
»Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist.«
Sie drehte den Hahn zu, nahm ein Handtuch und drehte sich zu mir um. Ein Streifen Mascara lief über eine Wange. »Wenn du wolltest, daß ich aufhöre zu reden, hättest du das sagen sollen. Ich habe dich gefragt. Ich habe gefragt, ob ich aufhören soll.«
»Das ist es nicht.«
»Was denn? Ich verstehe es nicht.«
Das ist es ja gerade. Du verstehst es nicht. Du kannst es nicht. Ich möchte nicht, daß du es tust. »Komm, vergessen wir es.«
Sie starrte mich durch die gerätesummende Küche an.
»Du hast Mascara auf der Wange.«
Sie hob die Hand und rieb ihre linke Wange.
»Auf der rechten.«
Sie rieb die andere Wange. Die Linie wurde zu einem Fleck. Ich hätte zu ihr gehen und ihn wegwischen können. Ich blieb stehen, wo ich war. Sie drehte sich wieder zur Spüle.
»Tu mir einen Gefallen«, sagte sie.
»Alles, was du willst.« Ich meinte es ernst.
»Bring mir morgen keine Blumen mit. Bring mir keine Blumen, und bring auch nichts für die Mädchen.«
»Was meinst du?«
»Ich meine, daß du das immer tust, wenn so etwas vorgefallen ist.«
»So etwas? Du sagst es, als wäre das ein regelmäßiger Vorfall.«
Sie gab keine Antwort. Sie drehte sich noch nicht einmal um. Aber ich sah an der rhythmischen Bewegung ihrer Schultern, fast wie die Bewegung jener betenden Männer in der Synagoge, zu der ich nicht mehr gegangen war, nachdem ich meine Stimme wiedergefunden hatte, daß sie erneut weinte. Es war nicht fair. So etwas passierte bei uns normalerweise nicht. Wir stritten uns nie.
Am nächsten Abend hielt ich auf dem Heimweg vom Büro an einem Geschäft an und kaufte eine Kamelie. Sie hatte gesagt, ich solle ihr keine Blumen kaufen, aber ich wußte, daß sie es nicht so meinte. Außerdem war das kein Strauß, der in ein paar Tagen sterben würde, sondern eine Pflanze, die weiter blühen würde.
ZWÖLF
Gusti (Huber) war die erste Schauspielerin
in Österreich, die von der amerikanischen
Militärregierung als entnazifiziert erklärt
wurde.
Joseph Besch, früher Captain Besch. U. S. Army, Ehemann von Gusti Huber, zitiert in der Zeitungskolumne »Broadway Discovers«
Gusti Huber… spielt Frau Frank… Ein großer Bühnen- und Filmstar Nazi-Deutschlands. Während des Krieges spielte sie
in zahlreichen Filmen… 1943, während die richtige Frau
Frank in ständiger Angst um das Leben ihrer Lieben lebte, bezauberte Gusti Huber die Deutschen in einem Film mit dem
Titel ›Gabrielle Dambrone‹ … 1 944, als die Franks in
versiegelten Autos weggebracht wurden, amüsierte Fräulein
Huber die Bürger des Dritten Reichs mit ihren großartigen Auftritten… Und genau zu der Zeit, als Anne in Bergen-Belsen
ermordet wurde, trat Gusti als Star einer Filmkomödie auf…
Ich frage mich, ob sie das Wort ›Schalom‹ von der Bühne herunter gesagt hätte, wenn Hitler den Krieg gewonnen hätte.
Herbert G. Luft in American Jewish Ledger, Newark,
New Jersey, 28. März 1956
Madeleine saß am Tisch, die Schildpattbrille auf der Nase, als ich an diesem Abend in die Küche kam. Vor ihr stand eine alte Reiseschreibmaschine, die sie während der Collegezeit benutzt hatte. Sie holte die Schreibmaschine oft aus dem Dielenschrank, um für die Liga der Wählerinnen und für die Frauenliga für Frieden und Freiheit und noch eine Reihe weiterer Organisationen zu schreiben. In den Monaten, bevor die Rosenbergs hingerichtet worden waren, hatte sie die Schreibmaschine kaum weggeräumt. In der letzten Zeit kam es seltener vor, daß sie schrieb, aber an diesem Abend war es so.
Ich sagte, es tue mir leid, so spät zu kommen, und sie, weiter tippend, sagte, David schlafe schon, aber die Mädchen habe sie gerade erst zu
Weitere Kostenlose Bücher