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Der Junge, der Anne Frank liebte

Der Junge, der Anne Frank liebte

Titel: Der Junge, der Anne Frank liebte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ellen Feldmann
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dem Schrank, öffnete das Kühlfach und zog den Eiswürfelbehälter heraus. Ich sagte schon, ich bin kein Säufer, aber an diesem Abend hatte ich Lust auf einen Drink. Die örtliche Malergewerkschaft drohte wieder einmal mit Streik wegen der Farbenspraymethode.
     Ich warf zwei Würfel in mein Glas, ging zur Hausbar, füllte es halb mit Scotch und ging zurück in die Küche. Meine Frau folgte mir auf dem Fuß.
     »Es ist das Beste, was ich seit Jahren gesehen habe.«
     Ich setzte mich an den Tisch, zwischen meine Töchter, und stellte das Glas vor mich. »Schön, daß es dir gefallen hat.«
     »Ich bin nicht sicher, ob gefallen das richtige Wort ist, aber es hat mich dazu gebracht, manche Dinge besser zu verstehen.«
     Mit manchen Dingen meinte sie mich. Ich würde ihr nicht sagen, daß zweieinhalb Stunden in einem Theater zu sitzen und Schauspielern zuzuschauen, die so tun, als wären sie hungrig und verschreckt und dem Untergang geweiht, ihr bestimmt nicht helfen würde, mich zu verstehen. Ich würde ihr noch nicht einmal erklären, warum ich nicht wollte, daß sie mich verstand. Ich liebte sie dafür, daß sie mich nicht verstand. Das war der Grund, warum ich weitergegangen war, wenn das Mädchen im Marseilles mir ein Lächeln geschenkt hatte, das so dünn war wie die Zehncentstücke in meiner Tasche. Seit Jahren hatte ich nicht mehr an dieses Mädchen gedacht. Und sobald Madeleine aufhörte, über das Stück zu sprechen, würde ich auch nicht mehr an sie denken.
     »So«, sagte ich zu Abigail, »was gibt es Neues von Frau Glecklers Klasse?«
     Sie streckte einen Arm aus, damit ich ihn kontrollieren konnte. Seine Zerbrechlichkeit erschreckte mich noch immer. Auf ihrem Ellenbogen klebte ein Pflaster.
     »Sag mir, wenn du lieber nichts darüber hören möchtest«, sagte Madeleine.
     »Ich höre«, sagte ich und fragte Abigail: »Was ist passiert?«
     »Laurie hat mich geschubst.«
     »Am Schluß habe ich geweint«, sagte Madeleine. »Alle Zuschauer haben geweint.«
     »Und?« fragte ich Abigail. »Hast du Laurie zurückgeschubst?«
     Abby grinste und nickte.
     »Braves Mädchen.«
     »Sie hat sich zwei Jahre lang versteckt«, sagte Madeleine. »Und sie ist in einem Konzentrationslager umgekommen.« Bei den letzten Worten senkte sie ihre Stimme, als wären sie nicht geeignet für kindliche Ohren, als würden meine Töchter irgend etwas besser verstehen, als sie es tat. »Aber sie hat nie ihren Glauben an die Menschheit verloren.«
     Ich drehte mich zu Betsy um. Ihr Gesicht und ihre Hände waren mit Essen beschmiert, aber ihr Teller war noch voll. Die Weigerung meiner Töchter zu essen, brachte mich immer wieder durcheinander. Wußten sie denn nicht, was Hunger war? Gott sei Dank wußten sie es nicht. »Mann, diese Karotten sehen lecker aus«, sagte ich und schmatzte auffordernd mit den Lippen.
     »Sag mir, wenn du nichts davon hören willst«, sagte Madeleine noch einmal.
     Mir war lieber, es nicht zu sagen. »Ich höre«, wiederholte ich und hob den Löffel von Betsys Teller.
     »Das Erstaunlichste an dem Stück, das, was es davor bewahrt, unerträglich zu werden, ist der Triumph des menschlichen Geistes.«
     Nun waren wir beim menschlichen Geist.
     »Der Vater, Otto Frank, lebt noch. Damit beginnt das Theaterstück. Mit der Szene, in der er das Tagebuch findet.«
     Ich nahm einen Schluck meines Drinks.
     »Ich kann mir nicht vorstellen«, sagte Madeleine, »wie das gewesen ist.«
     Sie hatte recht, sie konnte es nicht. Warum, zum Teufel, sprach sie dann so hartnäckig darüber? Ich führte den Löffel zu Betsys Mund. Betsy preßte ihre Lippen zusammen.
     »Weißt du, was noch so faszinierend daran ist? Die Art, wie die verschiedenen Personen auf die Situation reagiert haben. Es waren zwei Familien, die sich versteckt hielten, und ein einzelner Mann. Der Mann, er hieß Dussel, war ein kompletter Idiot.«
     »Das ist es, was Dussel bedeutet«, sagte ich. Ich hatte nicht darüber sprechen wollen. Ich würde sie nicht am DarüberReden hindern, aber ich wollte keine Diskussion anregen.
    »Das habe ich nicht gewußt.«
    »Du sprichst nicht Deutsch.«
     »Was für ein Zufall. Daß er ein Idiot ist und daß er auch noch so heißt.«
     »Um Himmels willen, Madeleine, sie hat sich die Namen ausgedacht.« Ich stupste den Löffel gegen den geschlossenen Mund meiner Tochter, Betsy schüttelte den Kopf. »Zumindest nehme ich an, daß sie es getan hat.«
     »Natürlich. Das hätte ich mir denken

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