Der Junge, der Anne Frank liebte
getan hätte? Ich habe Ihnen gerade erzählt, daß ich es tat. Ich habe es noch nie im Leben irgend jemandem erzählt.«
»Sie haben es niemandem erzählt? Auch nicht den anderen, mit denen sie in jener Nacht zusammengewesen waren?«
»Ich habe Ihnen doch gesagt, die hatten genug. Die waren gegangen.«
»Und was ist mit dem D.-P.-Lager? Vielleicht haben Sie es bei der psychiatrischen Begutachtung erzählt?«
»Sind Sie verrückt? Glauben Sie, ich wäre in dieses Land gekommen, wenn ich es ihnen erzählt hätte?«
»Es kann also niemand Ihre Geschichte gestohlen haben?« fragte er.
»Was meinen Sie damit, meine Geschichte gestohlen?«
Er schob seinen Stuhl zurück, stand auf und ging zu einem Aktenschrank in der Ecke. Mit dem Rücken zu mir zog er einen Ordner heraus und begann zu suchen. Der Mann war wirklich ein Schweinehund. Ich gestehe ihm etwas, was ich noch keiner Menschenseele erzählt habe. Ich gebe zu, ein Mörder zu sein. Und er beschließt, in seinen Akten herumzusuchen.
Als er sich wieder umwandte, hatte er eine Mappe in der Hand. Er öffnete sie und blätterte sie durch, bevor er mir ein Blatt hinhielt.
»Was ist das?« fragte ich.
»Warum lesen Sie es nicht?«
»Tut mir leid, Doktor, ich bin nicht hergekommen, um etwas über die Probleme anderer Leute zu lesen.«
»Ich glaube, das wird Sie interessieren.«
Ich nahm ihm das Blatt aus der Hand und begann zu lesen. Ich brauchte nicht mehr als die ersten paar Sätze. »Wie haben Sie das gemacht?«
»Wie habe ich was gemacht?«
»Wie haben Sie meine Geschichte in haargenau den gleichen Worten aufgeschrieben, während ich sprach?« Natürlich wußte ich, daß er das nicht getan hatte, aber ich brauchte Zeit.
»Das ist nicht Ihre Geschichte, Herr van Pels. Oder besser, sie ist es, aber Sie sind nicht derjenige, der den Mann in der Scheune getötet hat.«
Ich hielt noch immer das Stück Papier in der Hand. Jetzt legte ich es auf den Tisch.
»Warum, glauben Sie, wurden Sie beim ersten Mal, als Sie Ihre Stimme verloren hatten, an mich überwiesen?«
»Die anderen Ärzte konnten nichts finden. Sie sagten, ein Psychiater wäre meine einzige Hoffnung.«
»Ja, aber es gibt noch viele andere Psychiater. Warum ausgerechnet ich?«
»Ich wollte nicht nach New York fahren.«
»Ich bin nicht der einzige Psychiater in New Jersey.«
Diesmal antwortete ich nicht.
»Hat Ihnen niemand etwas über mich erzählt?«
»Ich erinnere mich nicht.«
»Sie wußten also nicht, daß ich mit Überlebenden aus Konzentrationslagern arbeite?«
»Ich habe mit solchen Leuten nichts gemein. Sie sind verschreckt. Sie leben in der Vergangenheit. Ich habe alles hinter mir gelassen.«
»Sie haben diese Geschichte mit ihnen gemein. Der Bericht, den Sie gerade gelesen haben, stammt aus einem Interview in einem D.-P.-Lager.«
»Gut, ich bin also nicht der einzige Kerl, der ein Nazischwein in einer Scheune umgebracht hat.«
Er nickte. »Damit haben Sie wahrscheinlich recht. Solche Dinge sind öfter passiert, als wir zugeben wollen. Vielleicht sind Sie einer der Mörder, aber ich glaube es nicht. Fragen Sie mich nicht, warum. Es ist nur ein Gefühl.«
»Ich habe nicht gedacht, daß Psychiater Gefühle haben.«
»Gefühle sind alles, was wir haben, Herr van Pels. Aber was ich wirklich wissen möchte, ist, warum Sie unbedingt glauben wollen, Sie seien einer der Mörder.«
»Weil ich mich daran erinnere. Manchmal träume ich sogar davon.«
Ich hatte erwartet, er würde wieder seinen verdammten Ordner durchblättern und mich daran erinnern, daß ich gesagt hatte, ich würde nicht träumen. Wenn er das tut, dachte ich, stehe ich auf und verlasse sein Sprechzimmer. Ich hätte es längst tun sollen. Ich gestehe ihm das schlimmste Verbrechen, das ich je begangen habe, und er erzählt mir, daß ich nicht schuld daran bin.
»Sie erinnern sich daran, den Deutschen umgebracht zu haben, weil Sie ihn umbringen wollten. Sie und eine Menge anderer. Und wenn einer von Ihnen es getan hat, haben alle es getan.«
»Ein Minjan der Rache.«
Er legte den Kopf auf eine Seite, spöttisch, als hätte ich ihn überrascht.
»Haben Sie nicht gesagt, Sie wüßten nichts über Ihre Religion?«
»Man kann nicht verhindern, da und dort etwas aufzuschnappen.«
Ich wußte, als ich die Autotür zumachte, daß ich ein Risiko einging. Auf diesen beschädigten Straßen mit den heruntergekommenen, gewaltsam zerstörten Häusern
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