Der Junge, der Anne Frank liebte
Tisch liegengelassen hatte. »Ihr Vater starb in Auschwitz, ist das korrekt?«
»Wir haben das besprochen.«
»Bei der Selektion am ersten Abend, auf der Rampe?«
Ich nickte.
Er blätterte seine Notizen durch. Die Blätter waren vollgekritzelt. Seine Handschrift war genauso unordentlich wie sein Sprechzimmer.
»Falls er nicht ein paar Monate später gestorben ist, als Sie ihn gesehen haben, wie er mit einer Gruppe anderer Männer weggebracht wurde, und dann den Lastwagen, der mit ihren Kleidungsstücken zurückkam.«
Ich konnte mich nicht erinnern, daß ich ihm davon erzählt hatte, weder von dem einen noch von dem anderen. Aber ich konnte mich an beide Versionen erinnern.
»Ich versuche jetzt nicht, Sie bei einer Unwahrheit zu erwischen, Herr van Pels. Beide Tode sind real in Ihrem Kopf.«
In meinem Kopf. Ich hätte ihn umbringen können dafür.
»Mein Vater ist tot, und Sie sagen mir, daß es egal ist, wie ich ihn umgebracht habe?«
»Wie Sie ihn umgebracht haben?«
»Wie sie ihn umgebracht haben.«
Er starrte mich über den Tisch mit seinem idiotischen Blick an.
»Ich bin kein Mörder.«
»Ich habe nie gesagt, Sie wären einer.«
»Jene Nacht in der Scheune, das war eine geistige Verwirrung.«
Er wartete.
»Es war direkt nach dem Krieg. Wir hungerten immer noch, um Christi willen. Es war also gleich nach dem Krieg.«
Er fuhr fort, mich anzustarren.
»Wir wollten nur ein bißchen Spaß haben. Und uns ein bißchen revanchieren.«
»Revanchieren?«
»Rache. Zum Teufel, wir hatten es verdient, nach allem, was wir durchgemacht hatten. Der Krieg war vorbei, und plötzlich ist er nur ein unschuldiger Bauer. Als hätte er nie etwas von der SS gehört. Als hätte er nicht diese verdammte Tätowierung, die alles bewies. Die Tätowierung und die gemeinen kleinen Augen und den Schweinerüssel von einer Nase.«
»Sie hatten einen Zusammenstoß mit einem SS-Mann?«
»Der Schweinehund hat nur bekommen, was er verdient hat.«
»Erzählen Sie mir davon«, sagte er.
Ich hatte geglaubt, er würde nie fragen.
Die anderen hatten schon genug gehabt. Los, komm, sagten sie. Wir haben unseren Spaß gehabt. Wir haben ein paar Deutsche geschlagen. Wir haben ein bißchen Geld verdient. Aber ich konnte nicht aufhören. Der Hunger nagte noch an mir. Ich hatte ein paar Männer zusammengeschlagen. Ich hatte einige Fenster zerbrochen, ein Paar Stiefel und eine Flasche Schnaps und etwas Geld gestohlen. Das war alles nichts wert. Rachekrumen. Ich sehnte mich nach einem Festmahl. Und ich wußte, wo ich es finden würde. Jeder kannte den Bauern, jeder wußte, was er während des Kriegs getan hatte, was er jetzt wieder tun wollte.
Das unbehandelte Holz glitzerte im Mondlicht, das so dünn war wie Wasser. Das Tor zur Scheune stand offen. Der Schweinehund war zu allem anderen auch noch ein miserabler Bauer.
Der Gestank nach Tieren, Jauche, Schweiß, Pisse und Alkohol verschlug mir den Atem. Der einzige Gestank, der fehlte, war der von Angst. Der Bauer war bewußtlos. Ich hatte keine Angst.
Ratten huschten durch die Dunkelheit. Ich machte einen Schritt in die Scheune hinein. Ein Tier schnaubte. Etwas scharrte auf dem Boden. Schnarchen drang durch den Gestank. Der Schatten nahm in der Dunkelheit Gestalt an. Ich erkannte eine Hüfte, eine Schnauze, einen Haufen schmutziger Kleidung und eine Axt. Die Kleidung bewegte sich auf und ab, im selben Rhythmus wie das Schnarchen. Der Schaft der Axt lag so gut in meiner Hand, als wäre er dafür gemacht.
Ich benutzte beide Hände, um die Axt zu heben, aber sie fiel durch das eigene Gewicht nieder. Blut spritzte in das wäßrige Mondlicht. Wieder erhob ich die Axt und ließ sie ein zweites Mal fallen, ein drittes und viertes, bis ich aufhörte zu zählen. Das Blut bildete eine schwarze Lache auf dem harten, schmutzigen Boden. Mondlicht glitzerte in der Lache wie eine Flamme. Ich warf die Axt auf den Haufen stinkender Kleidung. Meine gestohlenen Stiefel rutschten durch das Blut, als ich wegrannte.
Nachdem ich mit meiner Geschichte fertig war, zog ich ein Taschentuch hervor und wischte mir über das Gesicht. Der Schweiß lief an mir herunter, als würde ich noch immer mit jener Axt draufloshacken. Gabor lehnte sich seelenruhig zurück.
»Sie gingen also zu diesem Schuppen und töteten dieses SSSchwein mit einer Axt. Es wäre gut für Sie, wenn Sie es wirklich getan hätten.«
»Was meinen Sie damit, wenn ich es wirklich
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