Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Junge, der Anne Frank liebte

Der Junge, der Anne Frank liebte

Titel: Der Junge, der Anne Frank liebte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ellen Feldmann
Vom Netzwerk:
daß zum Beispiel der Metzger Miep Fleisch geben würde, ohne Lebensmittelmarken, ohne überflüssige Fragen, damit wir alle im Hinterhaus etwas zu essen hätten. Ich wollte erklären, daß meine Mutter keine schamlos flirtende Person gewesen war, sondern eine temperamentvolle, großherzige Frau, deren Sandkuchen mit Liebe gebacken wurde und die ein wertvolles Schmuckstück verschenkt hatte. Ich wollte ihnen sagen, daß sie endlich aufhören sollten, sich darüber zu zanken, was Anne glaubte, denn es war nicht mehr als der Schmerz eines heranwachsenden Mädchens, sie sollten lieber daran denken, was meine Eltern getan hatten und endlich die Wahrheit darüber sagen, was für Menschen sie gewesen waren.
     Ich stand da. Ich starrte dem Richter direkt ins Gesicht und fühlte, wie sich Leute nach mir umdrehten. Aufmerksamkeit breitete sich aus, in die ich die Wahrheit sagen wollte.
     »Euer Ehren«, fing ich an. Ich war wirklich nicht respektlos.
     Das Hämmerchen des Richters fiel auf den Tisch. Das Wort Ordnung schwebte über meinem Kopf.
     »Euer Ehren«, begann ich, »ich möchte gern…«
     Alle Köpfe im Gerichtssaal drehten sich zu mir. Die Leute reckten die Hälse, um zu sehen, wer die Störung verursachte. Es war aber keine Störung. Wenn der Richter nur aufhören würde, mit seinem Hämmerchen auf den Tisch zu schlagen, würde ich meine Aussage machen, ruhig, vernünftig, respektvoll, und mich danach wieder setzen.
     »Euer Ehren«, rief ich, denn inzwischen blieb mir nichts anderes übrig. Um gehört zu werden, mußte ich meine Stimme erheben.
     Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Wachen hereinkamen, zwei durch den Gang vor dem Gerichtssaal, zwei von hinten. Ich hatte nicht mehr viel Zeit.
     »Ich möchte eine Erklärung abgeben«, fing ich an. Ich fühlte, wie Charlotte auf dem Platz neben mir wegrutschte. Ich versuchte, bei ihr zu bleiben. Wir würden eine gemeinsame Front bilden. Wir würden das Bild ihres Cannes und meines Vaters auf einen Schlag zurechtrücken. Doch einer der Wachmänner schob sich zwischen uns. Ein zweiter packte mich von hinten.
     »Sie verstehen nicht«, rief ich dem Richter zu.
     Die Wachen zogen mich aus der Sitzreihe.
     »Ich bin Peter van Pels«, beharrte ich, als sie mich in den Gang zerrten. »Sie ist Charlotte Pfeffer, und ich bin Peter van Pels.« Ich hing über einem Stuhl. Ich würde mich nicht aus dem Gerichtssaal werfen lassen, ich wollte, daß man mir zuhörte.
     »Sag es ihnen, Charlotte«, bat ich, aber Charlotte schüttelte den Kopf und versuchte, so weit weg von mir abzurücken wie möglich.
     »Sag es ihnen, Otto!« Aber Otto war in dem schützenden Ring seiner Verteidiger verschwunden.
     Die Wachen ließen meine Hände los. »Sag ihnen die Wahrheit über meinen Vater«, bettelte ich, als sie mich zur Tür schleppten.
     Einer der Wachmänner hielt meinen Nacken umklammert. »Ich bin Peter van Pels.« Sein Griff war wie Eisen. Ich fiel nach hinten, gegen sein Gesicht.
     Ein anderer Wachmann hatte sich herangearbeitet. Er versuchte, mir die Arme an die Seite zu pressen. Ich bekam meinen rechten Arm frei. »Ich bin Peter van Pels«, warnte ich ihn, als meine Faust sich seinem Unterkiefer näherte. Ich fühlte etwas Hartes und Festes in meinem Bauch. »Ich bin Peter van Pels«, bekannte ich dem Marmorfußboden, der mir näher kam.
     »Wer zum Teufel ist Peter van Pels?« hörte ich den Wachmann fragen, genau in dem Moment, als mein Kopf auf dem harten Boden aufschlug.

ACHTZEHN

    Er wurde von der SS geschlagen, und er hatte sich
    versprochen, er würde den Tod seiner Verwandten und das
    eigene Leiden rächen… Er wußte, wo ein Deutscher allein
         lebte. Er näherte sich ihm heimlich und schlug ihn mit den Fäusten, aber er fühlte sich noch immer nicht gerächt. Er fand
    eine Axt, und er beschrieb im Detail, wie er den Mann
            kaltblütig und eigenhändig mit der Axt tötete. Er sagte, nachdem er den zerfetzten Körper gesehen hatte, habe er sich
    besser gefühlt und sei heimgegangen… Seither hat sein
    Verhalten keine der genannten mörderischen Züge gezeigt.
    Ein psychiatrisches Gutachten aus dem Lager Förenwald

    Ich war wieder in Dr. Gabors Sprechzimmer. Diesmal gab es keinen Grund. Ich hatte meine Stimme nicht verloren. Meine Sehkraft war perfekt. Mein einziges Symptom war ein Ausbruch von Ehrenhaftigkeit. Daß ich die Wahrheit gesagt hatte, brachte mich in das Sprechzimmer eines Psychiaters. Ich weiß natürlich, daß es genau

Weitere Kostenlose Bücher