Der Junge, der Anne Frank liebte
Gerichtssaal?«
»Ich muß sie schützen. Sie und meine Kinder.«
»Dagegen ist nichts zu sagen. Ich bin sicher, du bietest ihnen ein gutes Leben.«
»Ich versuche es.«
»Ein schönes Haus?«
»Schön genug.«
»Teppichböden. Die modernsten Geräte. Eine gutgefüllte Gefriertruhe, könnte ich wetten.«
Ich antwortete nicht.
»Sag mir, hast du viele Spiegel in deinem tollen Haus?«
Darauf wollte er also hinaus. »Du meinst, wie kann ich mich im Spiegel anschauen, wenn ich leugne, ein Jude zu sein?«
»Wieder mal die Juden. Wenn die Hälfte der Leute, die sagen, daß sie Juden sind, nur halb soviel Zeit damit verbracht hätten, sich darüber Sorgen zu machen, wie du es tust, der behauptet, keiner zu sein, dann wäre es hier jeden Morgen voll. Ich spreche nicht davon, mit dem Judenstern auf dem Arm herumzurennen. Das haben wir bei den Nazis genug gehabt. Ich spreche davon, a mentsch zu sein. Weißt du, was das ist, ein mentsch?«
»Ein Mensch.«
»Ein bißchen mehr als das. Anständig. Zuverlässig. Ein aufrechter Kerl.«
»Und weiter?«
»Und weiter? Wenn ich du wäre, wenn ich mir solche Sorgen um das Andenken meines Vaters machte, würde ich Otto Frank vergessen und nach Hause gehen und in einen der Spiegel in diesem schönen Haus schauen, das du gebaut hast, um allen Sicherheit zu bieten.«
NEUNZEHN
Ich glaube, daß die weltweite Akzeptanz, die ihr Tagebuch gefunden hat, nicht erklärt werden kann, wenn wir darin nicht
unseren Wunsch erkennen, die Gaskammer zu vergessen, und unsere Anstrengungen, das zu tun, indem wir die Fähigkeit, auf
eine extrem private, sanfte, sensible Welt zu reagieren, glorifizieren, und uns so weit wie möglich an das zu klammern,
was die täglichen Verhaltensweisen und Handlungen waren,
wenn auch von einem Strudel umgeben, der geeignet war,
einen jeden Augenblick in die Tiefe zu reißen. »The Ignored Lesson of Anne Frank« von Bruno Bettelheim in
Anne Frank. Reflections on Her Life and Legacy,
hg. von Hymann A. Enzer und Sandra Solotaroff-Enzer
Ich wünschte, ich könnte sagen, ich wäre seinem Rat gefolgt, ich wäre nach Hause gegangen und hätte Madeleine gesagt, wer ich war und wo ich gewesen war, ich wünschte, ich hätte meine Kinder auf den Schoß genommen und sie gefragt, was macht neunhundert-neunundneunzigmal klick und einmal klack, und ich hätte, wenn sie es aufgegeben hätten, gesagt, ein Tausendfüßler mit einem Klumpfuß. Ich wünschte, ich hätte ihnen erzählt, wie mein Vater mich damit zum Lachen gebracht hatte, als ich so alt war wie sie. Ich wünschte, ich hätte ihnen erzählt, daß mein Vater jähzornig war, aber ein guter Mensch und kein Dieb. Daß ich mich manchmal wegen meiner Mutter geschämt hatte, welcher Junge tut das nicht, aber daß ich sie geliebt habe und alles darum geben würde, an jenem Abend, bevor die Grüne Polizei kam, nicht mit ihr gestritten zu haben. Daß ich meinem Vater noch immer manchmal vorwerfe, daß er uns nicht rechtzeitig aus dem Land gebracht hatte, und daß ich mich dafür haßte, dem Ganzen letztlich entkommen zu sein.
Vielleicht wäre es für meine Kinder besser gewesen, wenn ich ihnen die Wahrheit gesagt hätte. Vielleicht hätte Madeleine aufgehört, mir mit Scheidung zu drohen. Vielleicht hätte es auch keinen Unterschied gemacht. Millionen Menschen wären immer noch tot, und ich wäre immer noch am Leben. Mein Vater wäre noch immer bei der Selektion zur falschen Seite geschickt worden oder wäre noch immer mit jener Gruppe Männer abmarschiert. Ich wäre noch immer nicht sicher, welche Version die richtige war. Ich hätte noch immer nichts dagegen unternommen, und die Kinder wären nicht viel glücklicher oder unglücklicher aufgewachsen als andere junge Leute, soweit ich das beurteilen konnte.
Wir bauten einen Swimmingpool hinter dem Haus, mit dem mich der Rothaarige aufgezogen hatte, wir bauten noch eine Glasveranda an, und dann verkauften wir es und zogen in ein größeres Haus, das vor dem Krieg gebaut worden war, aus solidem Material und gut gearbeitet, wie man es heute nicht mehr findet. Abigail wurde bei einer Antikriegsdemonstration verhaftet. Betsy stieg aus dem Wrack von Madeleines funkelnagelneuem Volvo, Gott sei Dank mit nichts Schlimmerem als einem gebrochenen Finger. Und nach vier Jahren mit lauter Supernoten verpaßte David fast den Abschluß an der Privatschule, die er besuchte, weil er und
Weitere Kostenlose Bücher