Der Junge, der mit den Piranhas schwamm
„Nein“, murmelt er. „Ich kann mich an eine Menge Boshaftigkeit erinnern, aber Gutherzigkeit … Wie kam es, dass Sie ihn verloren haben, wenn ich fragen darf?“
Ernie schaut zu Boden. „Ach, mein guter Herr“, sagt er. „Es ist meine Schuld. Ich habe ihn schlecht behandelt. Er ist weggelaufen.“
„ Er ist weggelaufen? Und Sie sagen mir, dass er ein guter Junge ist? Kann denn ein Ausreißer überhaupt ein guter Junge sein?“
„Oh ja, Herr Wachtmeister!“, ruft Annie.
„Und noch etwas – können jene, die ihre Kinder schlecht behandeln, selbst gut sein?“
„Nein, mein Herr“, flüstert Ernie. „Aber ich habe meinen Irrtum eingesehen und ich habe mich geändert.“
„Zu spät!“, fährt der Polizist ihn an. „Ihre Boshaftigkeit wurde auf die Welt losgelassen! Wir haben einen bösen Ausreißer in unserer Mitte. Jetzt laufen Sie ihm hinterher und glauben, dass die Welt wieder ein freundliches Gesicht macht. ABER DA IRREN SIE SICH ! Ich sollte Sie jetzt gleich verhaften und in die finsterste Zelle sperren!“
„Oh, bitte nicht, Herr Wachtmeister!“, fleht Annie.
„Was haben Sie erwartet?“, fragt der Polizist. „Dachten Sie, ich würde Sie zum nächsten Fünf-Sterne-Hotel führen? Haben Sie mit Whirlpool, Himmelbett und Pralinen gerechnet?“
„Oh nein, Herr Wachmeister“, sagt Annie. „Wir wollen gar keinen Luxus.“
„ Luxus? Ich werde Ihnen gleich zeigen, was Luxus ist!“ Der Polizist deutet quer über die Straße zu der schmalen Gasse gegenüber. „Gehen Sie mir aus den Augen“, knurrt er, „bevor ich Sie in Handschellen lege! Gehen Sie da entlang. Dann kommen Sie zu dem Rest der abgerissenen, nichtsnutzigen Horde. Da gibt es Löcher, in denen Sie sich verkriechen können. Wenn Sie noch ein bisschen weitergehen, kommen Sie sogar zu einem Fluss, in den Sie sich stürzen können.“ Seine Augen funkeln in der Dämmerung. „Wenn ich Sie jemals wieder zu Gesicht bekomme …“
Annie und Ernie hasten über die Straße. Sie weichen dem Verkehr aus. Sie huschen in die schmale Gasse. Der Polizist kichert ihnen hinterher. Oh, wie sehr er seine Arbeit liebt!
„Was für ein gemeiner Mann“, sagt Ernie.
„Vielleicht hatte er bloß einen harten Tag“, sagt Annie.
Sie nimmt Ernies Arm und gemeinsam stolpern sie die dunkle, mit Schlaglöchern übersäte Straße entlang.
„Du hast Recht, Liebes“, sagt Ernie. „Vielleicht hatte er nur einen sehr harten Tag.“
Zweiundvierzig
Einer nach dem anderen werden Millionen und Abermillionen Sterne angeknipst. Der bleiche Mond strahlt. Überall auf dem Jahrmarkt gehen die Lichter an. Sie flackern, blitzen und scheinen. Die Menschen kreischen und lachen in der kühler werdenden Luft, und die Musik hämmert und heult und gellt. Viele machen sich auf, schweigend und voller Erwartung. Sie machen sich auf an einen Ort, der stiller zu sein scheint als jeder andere. Einen Ort, an dem ein einfacher Anhänger mit einer Plane steht, einer Plane mit zwei Wörtern darauf:
! STANLEY POTTS !
Flutlicht beleuchtet die Szene. Und ein Scheinwerfer wirft einen Lichtkreis auf die blaue Plane, einen Kreis, der auf den Artisten wartet. Die Menge versammelt sich. Es werden immer mehr Zuschauer. Die Leute essen Popcorn und Chips und Zuckerwatte. Sie essen Zuckerstangen und Liebesäpfel. Sie kauen Würste und Burger mit Eberfleisch. Sie trinken Bier, Limonade und schwarze Brause.
„Wo ist er?“ Ein Raunen geht durch die Menge. „Wo ist Stanley Potts? Hast du ihn gesehen?“
Niemand hat ihn gesehen, denn Stan ist in Pancho Pirellis Wohnwagen. Er betrachtet die Fotos von Pancho als Kind; er erkennt, wie stark Pancho sich seitdem verändert hat. Wie er zu dem Mann wurde, der er heute ist. Stan blickt noch weiter in die Vergangenheit, zum großen Pedro Perdito. Das ist sein Urahn. Von ihm führt die Linie bis zu Stanley Potts. Und Stanley zittert und bebt ein bisschen.
„Bist du nervös?“, fragt Pancho.
„Ja“, gesteht der Junge.
„Hast du Angst, dass sie dich auffressen? Fürchtest du, dass heute dein Schicksalstag ist?“
Stan überlegt, dann schüttelt er den Kopf. „Nein“, sagt er. Dann muss er plötzlich wieder zittern. „Ich habe Angst, aber ich weiß nicht, wovor.“ Doch dann weiß er es. „Ich habe Angst, es vor all diesen Leuten zu tun.“ Dann weiß er noch etwas. „Und ich habe Angst, dass ich mich verändere. Ich habe Angst davor, ein anderer Stanley Potts zu werden.“
Pancho lächelt. „Ich kenne das Gefühl. Was die
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