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Der Junge, der Träume schenkte

Der Junge, der Träume schenkte

Titel: Der Junge, der Träume schenkte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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dieses Seil einen Monat tragen. Danach werde ich es dir abnehmen, aber du wirst weiter so gehen, als wäre es noch da. Tust du das nicht, lege ich es dir zunächst wieder an, und solltest du danach versuchen, dich aufzurichten, bringe ich dich eigenhändig um. Und wenn der Gutsherr abends in seinem schönen Auto hier vorbeifährt und hupt, läufst du hinaus und winkst ihm zu. Oder besser noch, du erwartest ihn bereits draußen auf der Straße, damit er dich gut sehen kann. Hast du mich verstanden?«
    Das Mädchen nickte.
    Da nahm die Mutter das Gesicht der Tochter in ihre knorrigen, runzeligen Hände und sah sie mit Liebe und verzweifelter Entschlossenheit im Blick an. »In deinem Bauch wird kein Bastard heranwachsen«, sagte sie.
    Noch bevor es Herbst wurde, hupte der Gutsherr nicht mehr, wenn er an der Hütte vorbeifuhr, da er sich mit dem Gedanken abgefunden hatte, Cetta sei hoffnungslos verkrüppelt. Und der Winter hatte kaum begonnen, da nahm er gar einen anderen Weg.
    Im Frühsommer sagte die Mutter zur Tochter, sie könne nun wieder genesen. Ganz langsam, um keinen Verdacht zu erregen. Cetta war dreizehn Jahre alt und hatte sich entwickelt. Doch das Jahr als Krüppel hatte sie ein wenig zum Krüppel gemacht. Und nie wieder, auch nicht, als sie erwachsen war, sollte es ihr gelingen, vollkommen gerade zu gehen. Sie lernte, ihren Makel zu überspielen, aber sie richtete sich nie mehr ganz auf. Die linke Brust war ein wenig kleiner als die rechte, die linke Schulter ein wenig gekrümmter als die rechte, der linke Oberschenkel ein wenig gedrungener als der rechte. Zudem war das gesamte Bein, das ein Jahr lang die Schulter nach unten gezogen hatte, steif geworden, oder die Sehnen hatten sich verhärtet, wodurch das Mädchen ein wenig zu hinken schien.

2
    Aspromonte, 1907–1908
    Nachdem die Mutter ihr erlaubt hatte, von der vorgetäuschten Krankheit zu genesen, hatte Cetta versucht, wieder gerade zu gehen. Doch manchmal schlief ihr linkes Bein ein oder verweigerte ihr den Gehorsam. Und um es aufzuwecken oder wieder zur Ordnung zu rufen, blieb Cetta nichts anderes übrig, als aufs Neue die Schulter herabzuziehen, die vom Seil der Mutter gekrümmt war. In dieser Krüppelhaltung schien sich das Bein an seine Pflicht zu erinnern und ließ sich nicht länger nachziehen.
    Eines Tages war Cetta zur Getreideernte draußen auf dem Feld. Und ganz in ihrer Nähe – der eine mehr, der andere weniger – waren ihre Mutter und ihr Vater und ihre Brüder mit den tiefschwarzen Haaren. Und auch der andere, fast blonde Halbbruder, der Sohn ihrer Mutter und des Gutsherrn. Der Halbbruder, dem weder Mutter noch Vater je einen Namen gegeben hatten und den alle in der Familie nur den Anderen nannten. »In deinem Bauch wird kein Bastard heranwachsen«, hatte ihr die Mutter in dem Jahr wieder und wieder eingeschärft. Sie hatte sie zu einem halben Krüppel gemacht, damit der Gutsherr seinen Blick von ihr abwandte. Und immerhin scharwenzelte der Gutsherr nun um andere Mädchen herum.
    Cetta war verschwitzt. Und müde. Sie trug ein langes Leinenkleid mit schmalen Trägern. Ihr linkes Bein blieb im kargen, sonnenverbrannten Boden stecken. Als sie bemerkte, dass der Gutsherr einigen Freunden seine Felder zeigte, achtete sie nicht weiter auf ihn, sie fühlte sich nun sicher. Der Gutsherr gestikulierte beim Gehen. Vielleicht erzählt er gerade, wie viele Erntehelfer für ihn arbeiten, dachte Cetta. Die Hand in die Hüfte gestemmt, hielt sie inne, um die Gruppe zu betrachten. Unter ihnen war die dritte Ehefrau des Gutsherrn; sie trug einen Strohhut auf dem Kopf und ein Kleid in einem Blauton, wie Cetta ihn nicht einmal am Himmel je gesehen hatte. Zwei andere Frauen begleiteten sie, vermutlich die Gattinnen der beiden Männer, die mit dem Gutsherrn plauderten. Die eine war jung und hübsch, die andere korpulent und ihr Alter schwer einzuschätzen. Die Männer an der Seite des Gutsherrn sahen ebenso unterschiedlich aus wie ihre Ehefrauen. Der eine war jung und dürr, hoch aufgeschossen und kraftlos wie ein Getreidehalm, der sich unter der Last der reifen Ähre biegt. Der andere war ein Mann mittleren Alters mit breitem Schnurrbart, altmodisch buschigen Koteletten und strohblonden Haaren. Er hatte ausladende Schultern und eine stattlich-breite Brust wie ein ehemaliger Boxer. Beim Gehen stützte er sich auf einen Stock. Und unterhalb seines rechten Knies war ein weiteres Stück Holz zu sehen. Ein künstliches Bein.
    »An die Arbeit, Hinkebein!«,

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