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Der Junge, der Träume schenkte

Der Junge, der Träume schenkte

Titel: Der Junge, der Träume schenkte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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war, nahm ein anderes Schiff, nicht dieses. Cetta beobachtete sie alle durch ein von Rost umrahmtes, schmutziges Bullauge. Die meisten Hungerleider würden an Land bleiben, sie würden nicht fortgehen. Sie würden auf eine andere Gelegenheit warten, einen neuen Versuch unternehmen, an Bord zu gelangen, ihre spärlichen Habseligkeiten verpfänden in der Hoffnung, sich eine Fahrkarte nach Amerika leisten zu können. Und während sie auf das nächste Schiff warteten, würden sie ihr kleines Vermögen durchbringen. Und niemals fortgehen.
    Anders Cetta. Sie ging fort.
    Und nur daran dachte sie, als sie durch das schmutzige Bullauge hinausschaute, während hinter ihr der kleine Natale, der nun gut acht Monate alt war, sich unruhig auf der mit Tierhaaren übersäten Wolldecke hin und her wälzte. Er lag in dem Weidenkorb, in dem zuvor das Hündchen einer eleganten Dame bequem herumgetragen worden war, bevor Cetta ihr den Korb gestohlen hatte. Nur an die lange Seereise dachte Cetta, während die klebrige Flüssigkeit ihr wie damals nach ihrer Vergewaltigung kalt an den Beinen herablief. Nur an Amerika dachte sie, während der Kapitän befriedigt seine Hose zuknöpfte und versprach, er werde am frühen Nachmittag mit einem Stück Brot und einem Schluck Wasser zu ihr zurückkommen, und lachend erklärte, sie beide würden viel Spaß miteinander haben. Und erst als Cetta hörte, wie die eiserne Luke von außen geschlossen wurde, trat sie vom Bullauge zurück und wischte sich mit dem Stroh, das auf dem Boden des Frachtraumes ausgestreut war, die Beine ab, bis sie ganz zerkratzt waren. Sie nahm Natale auf den Arm, entblößte die von den Händen des Kapitäns noch gerötete Brust und gab sie dem Jungen. Als das Kind danach in seinem stinkenden Hundekorb langsam in den Schlaf fiel, verkroch Cetta sich in eine dunklere Ecke, und während ihr die Tränen über die Wangen liefen, dachte sie: Sie sind salzig wie das Meer, das zwischen mir und Amerika liegt. Sie sind ein Vorgeschmack auf den Ozean, und sie leckte sie auf und versuchte, dabei zu lächeln. Als schließlich das Schiffshorn dumpf in die Hafenluft schnaubte und die Abfahrt ankündigte, erzählte Cetta sich beim Einschlafen das Märchen von einem fünfzehnjährigen Mädchen, das von zu Hause weggelaufen war, um sich mutterseelenallein mit einem unehelichen Sohn auf den Weg ins Feenreich zu machen.
    Ellis Island, Januar 1909
    Cetta wartete in einer Schlange gemeinsam mit den anderen Einwanderern. Erschöpft von der Reise und den sexuellen Schikanen des Kapitäns beobachtete sie, wie der Arzt der Bundeseinwanderungsbehörde den bedauernswerten Geschöpfen weiter vorn prüfend in Ohren und Mund schaute, nicht anders als ihr Vater es bei den Eseln und Schafen getan hatte. Einigen schrieb der Arzt mit Kreide einen Buchstaben hinten auf die Kleider. Wer einen solchen Buchstaben auf dem Rücken trug, wurde ausgesondert und zu einer Halle geführt, wo weitere Ärzte warteten. Die anderen Einwanderer gingen weiter zu den Tischen des Zollamtes. Cetta beobachtete die Polizisten, die ihrerseits die Beamten, die die Papiere stempelten, nicht aus den Augen ließen. Sie sah die Verzweiflung derer, die nach der anstrengenden und oft entwürdigenden Überfahrt abgewiesen wurden. Doch es war, als gehörte sie nicht zu ihnen.
    Alle anderen hatten an Deck verfolgt, wie das neue Land immer näher rückte. Cetta nicht, sie war die ganze Zeit im Frachtraum geblieben. Sie hatte Angst gehabt, Natale könnte sterben. Und in Momenten, in denen sie sich besonders schwach und müde fühlte, hatte sie sich dabei ertappt, wie sie sich fragte, ob es ihr etwas ausmachen würde. Daher hielt sie ihn nun eng an sich gedrückt und bat so das kleine Geschöpf, das ihre Gedanken nicht erahnt haben konnte, im Stillen um Vergebung. Ihr aber waren sie bewusst geworden, und sie schämte sich deswegen.
    Bevor sie von Bord ging, hatte der Kapitän ihr versprochen, persönlich dafür zu sorgen, dass man sie durchließ. Und kaum waren sie an Land, hatte er in dem riesigen Raum, in dem alle Einwanderer versammelt waren, einem kleinen Mann zugenickt, der Cetta an eine Maus erinnerte und hinter den Holzschranken stand, die das freie Gebiet abgrenzten. Amerika. Der Mäuserich hatte lange, spitze Fingernägel und trug einen auffälligen Samtanzug. Prüfend musterte er Cetta und Natale. Cetta kam es so vor, als hätte er unterschiedliche Augen.
    Der Mäuserich wandte den Blick zum Kapitän und führte seine Hand zur Brust. Zu

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