Der junge Goedeschal - Roman
schon infolge der mit meiner Versetzung nach hier erforderlich gewordenen Umschulung ein halbes Jahr verlor! Das hieße ein weiteres Jahr verlieren; er würde bestenfalls mit nahezu zwanzig sein Abitur machen, also zu einer Zeit, da ich schon tief im Studium war! Ganz abgesehen davon, dass das Rektorat kaum seine Einwilligung zu einer solchen Versäumnis erteilen würde.«
»Auf Grund meines Attestes würde eine solche Einwilligung wohl ohne weiteres erteilt werden müssen!«
»Ihres Attestes … Und Sie beabsichtigen in einem solchen Attest die sexuelle Frage anzuschneiden?«
»Versteht sich.«
»Und Sie begreifen nicht … entschuldigen Sie, ich bin sehr erregt, ich meine, Ihnen ist nicht klar, wie unglaublich kompromittierend es für mich in meiner Stellung sein würde, wenn mein Sohn wegen, ich will sagen, einer sexuellen Überreiztheit, die ans Pathologische grenzt, – drücke ich mich richtig aus?«
»Ungefähr.«
»Also … wenn mein Sohn aus – sexuellen Gründen vom Unterricht dispensiert würde? Welche Rückschlüsse würde man auf mein Privatleben ziehen! Ich höre schon unter meinen Mitarbeitern Redensarten wie: ›Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.‹ – Unmöglich! Einfach unerträglich!«
»Diese Einwendungen betreffen nicht die Sache.«
Staatsrat Goedeschal warf sich in einen Sessel. Erregt an seiner Brille rückend: »Ich komme zur Sache. Und da muss ich sagen, dass ich mit äußerstem Befremden, ja, mein lieber Herr Doktor, so leid es mir tut, mit äußerstem Befremden Vorwürfe gegen meine Gattin und mich aus Ihrem Munde gehört habe, die wir uns nie und von niemand erwartet hätten! Ich bitte Sie! Sie reden von Versäumnissen, die ich durch Nichtorientierung Kais über das Sexuelle begangen haben soll!«
»Versäumnisse, schwerwiegende Versäumnisse, wie Sie aus den Folgen sehen.«
»Sie übertreiben einfach die Folgen! – Sie vergessen ganz, dass Sie sich mit Ihren Ausführungen in einem schreienden Gegensatz zu unserm Kultusministerium befinden, das die sexuelle Aufklärung für Oberprima festgesetzt hat! Auch ist, soviel ich weiß, die Frage pro et contra Storch in der Literatur noch längst nicht entschieden!«
»Die Massenaufklärung in einer bestimmten Klasse ist, verzeihen Sie den harten Ausdruck, ein barer Nonsens! Ganz abgesehen davon, dass Aufklärung dann schon zu erfolgen hat, wenn die erotischen Reizwirkungen noch möglichst geringe sind, ist es ein Unding, von einer bestimmten Klasse zu erklären: sie ist reif für Aufklärung. Natur lässt sich nicht kommandieren: der eine reift früh, der andere später.«
»Sie reden immerzu von Natur! Das Natürliche ist es doch entschieden, die Dinge sich entwickeln zu lassen, wie ich es getan habe, und nicht mit allen möglichen ausgeklügelten und plumpen Eingriffen dazwischenzufahren.«
»Das Natürliche ist es, wenn Kinder im nächsten Konnex mit Tieren, Pflanzen und Menschen Geschlechtlichkeit vom ersten Tag als ein Selbstverständliches betrachten. Aufklärung wird für diesen Idealzustand stets nur Surrogat sein, ist deswegen aber nicht weniger notwendig.«
»Ihre Ansicht betreffs Entstehung dieser Überreiztheit ist falsch, das Sexuelle spielt dabei überhaupt keine Rolle. Mein Sohn ist unschuldig, das ist die heilige Überzeugung meiner Gattin und …«
»Und Ihr Sohn ist schuldig, wenn er über Sexuelles orientiert ist?«
»Meinem Sohn fehlen die Voraussetzungen für Ihre Theorien! Er stammt mütterlicherseits aus den Kreisen der Geistlichkeit, väterlicherseits von Juristen ab. Bei Niederschrift eines Stammbaums gingen mir genügend Dokumente durch die Hand: es befindet sich unter allen Vorfahren kein übertriebener Erotiker. Ihre Behauptung ist blasse Theorie, sie widerspricht jeder Vererbungslehre.«
»Vererbung als ein Rechenexempel anzusehen, muss ich ablehnen.«
»Von einer Versäumnis kann überhaupt keine Rede sein, das alles ist von uns genau erwogen. Erst vor ein paar Tagen hatte ich mit meiner Frau dieserhalb ein eingehendes Gespräch.«
»Dieses Gespräch hätten Sie vor drei, vier, fünf, sechs Jahren führen sollen!«
»Ihre Ausführungen sind mir unverständlich!«
»Und mir Ihre Einwendungen!«
Atemlos betrachtete Staatsrat Goedeschal den Arzt, der sich hastig eine neue Zigarette anbrannte. »Wenn Sie wenigstens nicht rauchen wollten! Ich kann Zigarettendampf gar nicht vertragen!«
»Ach, verzeihen Sie!« Und er zerdrückte die brennende im Becher. »Vielleicht darf ich Ihnen eine Zigarre
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