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Der junge Häuptling

Der junge Häuptling

Titel: Der junge Häuptling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liselotte Welskopf-Henrich
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Pferdeherde vorbei, gelangte zu dem Häuptlingszelt und trat ein. Das Tipi war leer. In der Feuerstelle lagen Asche und wenig Glut. Blitzwolke ließ den gefüllten Wassersack hier zurück und ging wieder hinaus aus dem Zelt und aus dem Dorf. Es tagte. Jetzt, in der ersten grauen Dämmerung, war das Feuerleuchten im Süden und im Westen noch deutlich zu sehen, und obgleich das Flammenmeer in der Ferne für das Dorf nicht mehr gefährlich werden konnte, wirkte der rote Schein drohend und unheimlich.
    Unschlüssig blieb Blitzwolke stehen. Sie wußte, wo Uinonah und Untschida zu finden waren, und sie wollte zu ihnen gehen und bei ihnen sein, und doch schämte sie sich. Es schien ihr vermessen, für ein solches Mädchen, wie sie es war, zu zeigen, wie sie Uinonah liebte und wie sie das Leid der Häuptlingsschwester und der Häuptlingsmutter in ihrem Herzen teilte. Endlich aber war ihr Wunsch, bei diesen Frauen zu sein, stärker als alle verlegene Scham, und sie lief schnell wieder ostwärts in die Prärie hinein, viel weiter fort, als sie mit dem Wassersack gegangen war.
    In der morgendlichen Stille hörte sie Gesang, und sie erkannte auf einer Anhöhe die beiden Frauen, die sie suchte. Das Herz klopfte ihr. Langsam, als betrete sie eine heilige Geheimnisstätte, ging sie den Wiesenhang hinauf und gesellte sich zu Uinonah und Untschida. Mit ihnen schaute sie nach Osten. Streifenschatten mächtiger Platzregen reichten vom Himmel zur Erde, und die Strahlen der Morgensonne drangen nicht durch. Irgendwo in der Ferne hinter Regen und Wolken befand sich jenes Fort, in dem Tokei-ihto gefangen war. Uinonah und Untschida sangen leise Lieder der Trauer und der Anklage, und ihre Worte und ihr Ton wurden mächtiger als die Klagen und bedeuteten Zorn und Aufruhr. Diese Frauen bangten um den Häuptling, aber sie hofften auch, daß er bald frei sein würde. Nicht nur der Biber und die Männer, die ihn begleitet hatten, wollten für den Häuptling kämpfen. Große Scharen der Dakota unter der Führung Tatanka-yotankas und Tashunkawitkos hatten die Langmesser, die von General Custer in die Dakotaprärien im Norden geführt worden waren, geschlagen und getötet. Bald, so hofften die Frauen, würden die weißen Angreifer aus der Prärie, der letzten Zuflucht der freien Dakota, wieder hinausgetrieben sein.
    Blitzwolke stimmte mit ihrer hellen Stimme in den Gesang ein.
    Als die ersten beiden Morgenstunden dahingegangen waren, suchten die Frauen wieder das verwaiste Häuptlingszelt auf. Blitzwolke ging zögernd bis zum Eingang mit. Als sie nicht wagte, einfach mit einzutreten, legte Uinonah den Arm um die Schultern des jungen Mädchens und zog es mit hinein. Untschida fand den gefüllten Wassersack, schaute Blitzwolke sehr freundlich an, und das Mädchen durfte sich im Häuptlingszelt eine Näharbeit suchen.
    Blitzwolkes Herz und Gedanken waren voll Kummer, voll Warten, aber auch voll Entschlossenheit und neuer Hoffnung, die der gemeinsame Gesang in ihr geweckt hatte.
    Morgen für Morgen ging Blitzwolke nun vor der Arbeit hinaus auf jenen Hügel, auf dem Uinonah und Untschida sangen und gegen Osten zu spähten, ob Tschapa Kraushaar und seine Krieger mit dem befreiten Häuptling zurückkehren würden. Auf eine scheue und schwärmerische Art war Blitzwolke der um Jahre älteren Häuptlingsschwester zugetan. Sie zeigte sich still, eifrig, folgsam der Großmutter, den Schwestern der verstorbenen Mutter und der eigenen größeren Schwester. Ihr lebhaftes, manchmal zerfahrenes und erregtes Wesen, das ihr den Namen Blitzwolke eingetragen hatte, glättete sich; ihr kluges Gesichtchen wurde dadurch auch hübscher, und ihre schwarzen Augen gewannen einen neuen Glanz. Das Glück, morgens mit Uinonah und Untschida singen zu dürfen, erfüllte sie ganz, und alle übrigen Stunden waren für das Mädchen nur noch Zeit des Nachdenkens über das, was sie jeden Morgen erleben durfte. Singen, das war für Blitzwolke mehr als Ausdruck von Freude, Leid oder Sehnsucht, es war für sie Geheimnis und ein heiliges Tun.
    Fünf Tage nach dem Präriebrand entdeckten die Frauen morgens vom Hügel aus ostwärts eine Reiterschar. Sie hatten sie früher wahrgenommen als die jungen Burschen, die Spähdienst leisteten. Die Reiter ritten in einer langen Reihe, etwa fünfzehn an der Zahl. Sie ritten im Galopp. Das dumpfe rhythmische Geräusch der aufschlagenden Hufe war zu hören. Bald erkannte auch Blitzwolke, daß es Männer der Bärenbande waren, die heimkehrten, und daß

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