Der Junge im gestreiften Pyjama (German Edition)
euch Soldaten nur das eine«, sagte Großmutter und überging die Kinder völlig. »Dass ihr in euren schönen Uniformen adrett ausseht. Ihr zieht euch fein an und dann erledigt ihr schreckliche, schmutzige Dinge. Ich schäme mich. Aber ich gebe mir die Schuld, Ralf, nicht dir.«
»Kinder, geht jetzt nach oben!«, sagte Mutter. Sie klatschte in die Hände, und diesmal blieb ihnen nichts anderes übrig, als aufzustehen und ihr zu gehorchen.
Doch statt gleich in ihr Zimmer zu gehen, schlossen sie die Tür, setzten sich oben auf die Treppe und versuchten mitzuhören, was die Erwachsenen unten sagten. Die Stimmen ihrer Eltern klangen gedämpft und waren schwer zu verstehen, die von Großvater gar nicht zu hören, während die von Großmutter überraschend scharf klang. Nach ein paar Minuten wurde schließlich die Tür aufgerissen, worauf Gretel und Bruno die Treppe hochflitzten, während Großmutter ihren Mantel von der Garderobe im Flur holte.
»Ich schäme mich!«, rief sie, bevor sie ging. »Mein eigener Sohn ist ein ...«
»Ein Patriot«, rief Vater, der vielleicht nie die Regel gelernt hatte, dass man seine Mutter nicht unterbricht.
»Ein Patriot, keine Frage!«, schrie sie. »Man muss sich nur ansehen, wen du in deinem Haus zum Essen empfängst. Da wird mir speiübel. Und wenn ich dich in dieser Uniform sehe, möchte ich mir am liebsten die Augen aus dem Kopf reißen!«, fügte sie an, dann stürmte sie aus dem Haus und knallte die Tür hinter sich zu.
Nach diesem Vorfall hatte Bruno seine Großmutter kaum noch gesehen, ja, er hatte nicht einmal die Gelegenheit gehabt, sich vor der Abreise nach Aus-Wisch von ihr zu verabschieden, aber sie fehlte ihm sehr, und er beschloss, ihr einen Brief zu schreiben.
An jenem Tag setzte er sich mit einem Stift und Papier hin und erzählte ihr, wie unglücklich er war und wie sehr er sich zurück nach Berlin sehnte. Er erzählte ihr von dem Haus und dem Garten und der Bank mit dem Schild, von dem hohen Zaun, den hölzernen Telegraphenmasten, den Stacheldrahtballen und dem harten Boden dahinter, von den Baracken, den kleinen Gebäuden, den Schornsteinen und Soldaten, vor allem aber erzählte er von den Menschen, die dort lebten, von ihren gestreiften Anzügen und Stoffmützen. Am Ende schrieb er, wie sehr sie ihm fehlte, und schloss seinen Brief mit den Worten Dein Dich liebender Enkel, Bruno.
Kapitel neun
Bruno erinnert sich, wie gern er früher geforscht hat
Eine ganze Weile änderte sich nichts in Aus-Wisch.
Bruno musste sich weiterhin mit Gretels unfreundlichem Verhalten ihm gegenüber abfinden, wenn sie schlechte Laune hatte, und das kam ziemlich oft vor, weil sie ein hoffnungsloser Fall war.
Er sehnte sich weiterhin nach Berlin zurück, auch wenn die Erinnerungen an die Stadt allmählich verblassten. Und entgegen seinem Wunsch waren bald mehrere Wochen vergangen, seit er daran gedacht hatte, den Großeltern noch einen Brief zu schicken, geschweige denn, sich hinzusetzen und einen zu schreiben.
Die Soldaten kamen und gingen weiterhin jeden Tag und hielten Treffen in Vaters Büro ab, zu dem nach wie vor der Zutritt jederzeit und ausnahmslos verboten war. Oberleutnant Kotler stolzierte immer noch in seinen schwarzen Stiefeln umher, als wäre er der wichtigste Mann auf der ganzen Welt, und wenn er nicht bei Vater war, stand er in der Auffahrt und unterhielt sich mit Gretel, die hysterisch lachte und ihr Haar um die Finger wickelte, oder er flüsterte allein mit Mutter in irgendwelchen Zimmern.
Die Dienstboten kamen nach wie vor und wuschen, fegten, kochten, putzten, servierten, räumten ab und hielten den Mund, außer sie wurden angesprochen. Maria räumte nach wie vor meistens Sachen weg und sorgte dafür, dass jedes Kleidungsstück, das Bruno gerade nicht trug, ordentlich zusammengelegt in seinem Schrank lag. Und Pavel kam nach wie vor jeden Nachmittag zum Kartoffel- und Karottenschälen ins Haus, zog dann sein weißes Jackett an und servierte das Abendessen am Tisch. (Manchmal sah Bruno, wie er einen Blick in Richtung seines Knies warf, wo eine winzige Narbe von dem Schaukelunfall zurückgeblieben war, doch sonst redeten sie nie miteinander.)
Und dann änderte sich alles. Vater beschloss, es sei an der Zeit, dass die Kinder wieder etwas lernten, und obwohl Bruno es lächerlich fand, Unterricht abzuhalten, wenn es nur zwei Schüler gab, waren sich Mutter und Vater einig, dass jeden Tag ein Lehrer ins Haus kommen und morgens und nachmittags unterrichten sollte.
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