Der Junge im gestreiften Pyjama (German Edition)
Ein paar Tage später ratterte morgens ein Mann namens Liszt auf seiner Klapperkiste die Einfahrt hoch, und es war wieder Zeit für Schule. Herr Liszt war Bruno ein Rätsel. Obwohl er meistens sehr freundlich war und nie die Hand gegen ihn hob wie sein alter Lehrer in Berlin, lag etwas in seinem Blick, was Bruno als Ärger deutete, der in ihm schwelte und nur darauf wartete, nach außen zu dringen.
Besonders gern mochte Herr Liszt Geschichte und Erdkunde, während Bruno Lesen und Kunst bevorzugte.
»Solche Sachen nützen dir nichts«, behauptete der Lehrer. »Solide Kenntnisse der Sozialwissenschaften sind in unserer Zeit weitaus wichtiger.«
»In Berlin hat uns Großmutter immer in Stücken auftreten lassen«, betonte Bruno.
»Aber deine Großmutter war nicht deine Lehrerin, oder?«, fragte Herr Liszt. »Sie war deine Großmutter. Und hier bin ich dein Lehrer, deswegen wirst du die Sachen lernen, die ich für wichtig befinde, und nicht nur das, was dir gefällt.«
»Aber sind Bücher denn nicht wichtig?«, fragte Bruno.
»Bücher über Dinge, die in der Welt zählen, sind durchaus wichtig«, erklärte Herr Liszt. »Aber keine Märchenbücher. Keine Bücher über Dinge, die nie geschehen sind. Was weißt du eigentlich über deine Geschichte, junger Mann?« (Man musste Herrn Liszt zugute halten, dass er Bruno mit junger Mann anredete, genau wie Pavel und anders als Oberleutnant Kotler.)
»Also ich weiß, dass ich am 15. April 1934 geboren bin ...«, sagte Bruno.
»Nicht deine Geschichte«, unterbrach ihn Herr Liszt. »Nicht deine persönliche Geschichte. Ich meine die Geschichte, die sich damit befasst, wer du bist, woher du kommst. Die Abstammung deiner Familie. Das Vaterland.«
Bruno runzelte die Stirn und überlegte. Er war sich nicht ganz sicher, ob Vater überhaupt Land besaß, denn das Haus in Berlin war zwar sehr groß und behaglich, aber der Garten drum herum war ziemlich klein. Und er war alt genug um zu wissen, dass Aus-Wisch ihnen nicht gehörte, obwohl es so groß war. »Nicht sehr viel«, gab er schließlich zu. »Dafür weiß ich ziemlich viel über das Mittelalter. Ich mag Geschichten von Rittern und Abenteurern und Forschern.«
Herr Liszt pfiff durch die Zähne und schüttelte ärgerlich den Kopf. »Dann wird sich das bald ändern«, sagte er unheilverkündend. »Ich werde deine Gedanken auf andere Pfade lenken und dir mehr über deine Herkunft beibringen. Über das große Unrecht, das man dir angetan hat.«
Bruno nickte und nahm die Bemerkung erfreut zur Kenntnis, denn er ging davon aus, man würde ihm endlich eine Erklärung dafür liefern, warum man die ganze Familie gezwungen hatte, ihr behagliches Heim zu verlassen, um an diesen grässlichen Ort zu ziehen, mit Sicherheit das größte Unrecht, das man ihm in seinem kurzen Leben zugefügt hatte.
Als Bruno ein paar Tage später allein in seinem Zimmer saß, dachte er an die vielen Dinge, die er so gern zu Hause gemacht hatte, seit seiner Ankunft in Aus-Wisch aber nicht mehr möglich waren. Das lag vor allem daran, weil er hier keine Freunde mehr zum Spielen hatte, und Gretel dachte nicht daran, sich mit ihm abzugeben. Aber es gab eine Sache, die er auch allein machen konnte und die schon in Berlin eine seiner Lieblingsbeschäftigungen war, nämlich Dinge erforschen.
»Als ich klein war«, sagte Bruno zu sich, »habe ich gern geforscht. Das war in Berlin, wo ich mich gut auskannte und mit verbundenen Augen alles finden konnte, was ich wollte. Aber hier habe ich noch nichts erforscht. Vielleicht sollte ich langsam damit anfangen.«
Und noch ehe er es sich anders überlegen konnte, sprang er vom Bett und wühlte in seinem Schrank nach einem Mantel und einem alten Paar Stiefel, beides Sachen, die ein echter Forscher seiner Ansicht nach brauchte. Dann machte er sich fertig, um nach draußen zu gehen.
Es hatte keinen Sinn, im Inneren zu forschen. Schließlich war dieses Haus ganz anders als das alte in Berlin, in dem es Aberhunderte Ecken und Winkel gab und komische kleine Zimmer, ganz zu schweigen von den fünf Stockwerken, wenn man den Keller mitzählte und die kleine Dachkammer mit dem Fenster, vor dem er sich auf die Zehenspitzen stellen musste, wenn er durchsehen wollte. Nein, dieses Haus eignete sich ganz und gar nicht zum Forschen. Wenn überhaupt, dann musste er nach draußen.
Seit Monaten hatte Bruno von seinem Zimmerfenster auf den Garten und die Bank mit dem Schild gesehen, den hohen Zaun und die hölzernen Telegraphenmasten und
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