Der Junge im gestreiften Pyjama (German Edition)
machte. Eines Nachmittags hatte Bruno ausgerechnet, dass er, wenn er sein gesamtes Leben acht Mal hintereinander leben würde, immer noch ein Jahr jünger wäre als Großvater.
Großvater hatte sein Leben lang ein Restaurant in der Stadtmitte geführt, und einer seiner Angestellten war der Vater von Brunos Freund Martin, der dort als Koch arbeitete. Obwohl Großvater längst nicht mehr selbst in dem Restaurant kochte und an Tischen bediente, verbrachte er die meiste Zeit dort, saß nachmittags an der Bar und unterhielt sich mit den Gästen, nahm dort sein Abendessen ein, lachte mit seinen Freunden und blieb, bis geschlossen wurde.
Großmutter wirkte nie alt im Vergleich mit den Großmüttern anderer Jungen. Genau genommen war Bruno sogar ziemlich erstaunt, als er erfuhr, wie alt sie wirklich war: zweiundsechzig. Sie hatte Großvater als junge Frau nach einem ihrer Konzerte kennengelernt, und irgendwie hatte er sie überredet, ihn trotz seiner vielen Fehler zu heiraten. Sie hatte langes rotes Haar, das dem ihrer Schwiegertochter verblüffend ähnlich sah, dazu grüne Augen, und das lag, wie sie immer behauptete, an dem irischen Blut, das es irgendwo in ihrer Familie gab. Bruno wusste immer, wann eine Familienfeier in vollem Gange war, weil Großmutter dann nämlich am Klavier stand, bis sich jemand an die Tasten setzte und sie bat zu singen.
»Was denn?«, rief sie dann meistens und hielt eine Hand an die Brust, als verschlage ihr allein schon der Gedanke daran den Atem. »Ein Lied soll ich singen? Das kann ich nicht. Ich habe Angst, junger Mann, meine Zeit als Sängerin liegt weit hinter mir.«
»Sing doch bitte! Komm schon!«, riefen alle auf der Feier, und nach einer angemessenen Pause, die manchmal zehn bis zwölf Sekunden dauerte, gab sie schließlich nach, wandte sich gutgelaunt dem jungen Mann am Klavier zu und sagte schnell:
» La Vie en Rose, Es-Moll. Und versuche bitte, die Wechsel hinzukriegen.«
Die Feste in Brunos Haus wurden immer von Großmutters Gesang beherrscht, der aus irgendeinem Grund stets mit dem Augenblick zusammenfiel, wenn Mutter den Brennpunkt der Feier verließ und, gefolgt von einigen ihrer Freundinnen, in die Küche ging. Vater blieb dann und hörte zu, genau wie Bruno, für den es nichts Schöneres gab, als Großmutter mit ihrer vollen Stimme zu hören und zu sehen, wie sie am Ende den Beifall der Gäste aufsog. Außerdem verspürte er bei La Vie en Rose immer einen Schauer, bei dem sich ihm die Härchen im Nacken sträubten.
Großmutter stellte sich gern vor, dass Bruno und Gretel wie sie irgendwann zur Bühne gingen, und dachte sich an jedem Weihnachten und zu jedem Geburtstagsfest ein kleines Stück aus, das sie mit den Kindern für Mutter, Vater und Großvater aufführte. Sie schrieb die Stücke selbst und gab sich Brunos Ansicht nach meistens selbst die besten Zeilen, obwohl ihn das nicht sonderlich störte. Meistens kam an irgendeiner Stelle auch ein Lied, wobei sie immer erst fragte: Wollt ihr vielleicht ein Lied? Außerdem gab es jedes Mal eine Stelle, an der Bruno einen Zaubertrick vorführen und Gretel eine Tanzeinlage geben konnte. Am Ende des Stücks rezitierte Bruno ein langes Gedicht von einem der großen Dichter, dessen Inhalt er kaum verstand, aber je öfter er die Wörter las, umso schöner klangen sie ihm in den Ohren.
Aber das war noch lange nicht das Beste an diesen kleinen Aufführungen. Das Beste waren die Kostüme, die Großmutter für Bruno und Gretel machte. Egal welche Rolle er spielte und egal wie wenig Text er im Vergleich zu seiner Schwester oder Großmutter zu sagen hatte, Bruno wurde immer als Prinz verkleidet oder als arabischer Scheich und einmal sogar als römischer Gladiator. Es gab Kronen, und wenn es keine Kronen gab, dann Speere. Und wenn es keine Speere gab, dann Peitschen oder Turbane. Keiner wusste, was Großmutter sich als Nächstes ausdachte, aber eine Woche vor Weihnachten mussten Bruno und Gretel jeden Tag zu ihr zum Proben kommen.
Leider hatte das letzte von ihnen aufgeführte Stück mit einer Katastrophe geendet, und Bruno erinnerte sich noch traurig daran, auch wenn er nicht genau wusste, was den Streit eigentlich ausgelöst hatte.
Ungefähr eine Woche vorher hatte große Aufregung im Haus geherrscht, die damit zusammenhing, dass Vater jetzt von Maria, Koch und dem Diener Lars mit Kommandant angesprochen werden musste, ebenso von den vielen Soldaten, die im Haus ein- und ausgingen und sich darin bewegten, als gehörte es ihnen und
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