Der Junge im gestreiften Pyjama (German Edition)
wurde
Der Spaziergang am Zaun entlang dauerte viel länger, als Bruno erwartet hatte; er schien sich meilenweit zu erstrecken. Bruno ging und ging, und bei jedem Blick zurück wurde das Haus, in dem er lebte, ein bisschen kleiner, bis es ganz außer Sichtweite verschwand. In der ganzen Zeit sah er niemanden in der Nähe des Zauns. Er entdeckte auch keine Tore, durch die er hätte hineingehen können, und fürchtete allmählich schon, dass sein Forschen ein völliger Misserfolg werden könnte. Denn obwohl der Zaun ins Endlose zu führen schien, verschwanden die Baracken und Gebäude und Schornsteine hinter ihm in der Ferne, und der Zaun schien ihn nur noch von freiem Gelände zu trennen.
Nachdem er eine gute Stunde gelaufen war und langsam ein bisschen Hunger bekam, sagte er sich, dass er für einen Tag genug geforscht hatte und er vielleicht lieber umkehren sollte. Im selben Moment aber tauchte ein kleiner Punkt in der Ferne auf, und er kniff die Augen zusammen, um festzustellen, was das war. Bruno erinnerte sich an ein Buch, in dem sich ein Mann in der Wüste verirrt hatte, und nachdem er mehrere Tage ohne Nahrung und Wasser hatte auskommen müssen, bildete er sich ein, herrliche Restaurants und gewaltige Brunnen zu sehen, doch sobald er in ihnen essen oder aus ihnen trinken wollte, lösten sie sich in nichts auf, waren nur noch haufenweise Sand. Er überlegte, ob ihm jetzt dasselbe widerfuhr.
Doch noch während er das dachte, trugen ihn seine Füße Schritt für Schritt näher zu dem Punkt in der Ferne, der zwischenzeitlich ein Fleck geworden war und langsam alle Anzeichen aufwies, sich in einen Klacks zu verwandeln. Und kurz darauf wurde der Klacks ein Schemen. Und als Bruno noch näher kam, sah er, dass das Ding weder ein Punkt noch ein Fleck noch ein Klacks noch ein Schemen war, sondern ein Mensch.
Genau genommen war es ein Junge.
Aus den vielen Büchern, die Bruno über Forscher gelesen hatte, wusste er, dass man nie vorhersagen konnte, was man eventuell fand. Meistens stießen sie auf etwas Interessantes, das einfach da war, sich um seinen eigenen Kram kümmerte und nur darauf wartete, entdeckt zu werden (wie beispielsweise Amerika). Dann wieder entdeckten sie etwas, das man besser in Ruhe lassen sollte (wie eine tote Maus hinten im Schrank).
Der Junge gehörte in die erste Kategorie. Er saß einfach da, kümmerte sich um seinen eigenen Kram und wartete darauf, entdeckt zu werden.
Bruno ging langsamer, als er den Punkt sah, der ein Fleck, dann ein Klacks, dann ein Schemen und schließlich ein Junge wurde. Obwohl sie durch einen Zaun getrennt waren, war ihm klar, dass man bei Fremden nie wachsam genug sein konnte und man sich ihnen am besten immer vorsichtig näherte. Er lief also weiter, und wenig später sahen sie einander an.
»Hallo«, sagte Bruno.
»Hallo«, sagte der Junge.
Der Junge war kleiner als Bruno und saß mit verlorenem Gesichtsausdruck auf dem Boden. Er trug den gleichen gestreiften Anzug, den alle Leute auf jener Seite des Zauns trugen, und eine gestreifte Stoffmütze auf dem Kopf. Er hatte weder Schuhe noch Socken an, und seine Füße waren ziemlich schmutzig. Über dem Ellbogen trug er eine Armbinde mit einem Stern darauf.
Als Bruno sich dem Jungen näherte, saß er im Schneidersitz auf dem Boden und starrte den Staub unter sich an. Kurz darauf jedoch blickte er auf, und Bruno sah sein Gesicht. Und es war ein ziemlich seltsames Gesicht. Die Haut wirkte fast grau, aber es war ein Grau, wie Bruno es noch nie gesehen hatte. Die Augen waren sehr groß, ihre Farbe erinnerte an Karamellbonbons; das Weiße war sehr weiß, und als der Junge ihn anschaute, sah Bruno in ein Paar unsagbar traurige Augen.
Für Bruno stand fest, dass er noch nie einen dünneren oder traurigeren Jungen gesehen hatte, dachte sich aber, er sollte lieber mit ihm reden.
»Ich habe geforscht«, sagte er.
»Wirklich?«, erwiderte der Junge.
»Ja. Schon seit fast zwei Stunden.«
Das entsprach strenggenommen nicht ganz der Wahrheit. Bruno hatte etwas über eine Stunde geforscht, aber er fand es nicht so schlimm, ein bisschen zu übertreiben. Übertreiben war nicht das Gleiche wie Lügen und es ließ ihn abenteuerlicher erscheinen, als er in Wirklichkeit war.
»Hast du was gefunden?«, fragte der Junge.
»Nicht sehr viel.«
»Gar nichts?«
»Doch, ich habe dich gefunden«, sagte Bruno nach einer Weile.
Er musterte den Jungen und überlegte, ob er ihn fragen sollte, warum er so traurig aussah, zögerte aber,
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