Der Junge im gestreiften Pyjama (German Edition)
besaß, ihn junger Mann zu nennen und nicht kleiner Mann wie Oberleutnant Kotler), »ich bin wirklich Arzt. Du musst wissen, wenn ein Mensch nachts in den Himmel schaut, heißt das noch lange nicht, dass er Astronom ist.«
Bruno hatte keinen Schimmer, was Pavel meinte, aber etwas an der Bemerkung des alten Mannes führte dazu, dass er ihn zum ersten Mal genauer ansah. Pavel war ziemlich klein, auch sehr dünn, mit langen Fingern und kantigen Zügen. Er war älter als Vater, aber jünger als Großvater, was dennoch hieß, dass er ziemlich alt war, und obwohl Bruno ihn vor seiner Ankunft hier in Aus-Wisch nie zu Gesicht bekommen hatte, verriet ihm etwas an seinem Gesicht, dass er früher einen Bart getragen hatte. Und jetzt nicht mehr.
»Das verstehe ich nicht«, sagte Bruno, denn er wollte der Sache auf den Grund gehen. »Wenn du Arzt bist, warum servierst du dann das Essen? Warum arbeitest du nicht irgendwo in einem Krankenhaus?«
Pavel zögerte eine ganze Weile, bevor er antwortete, und währenddessen schwieg Bruno. Er wusste nicht genau warum, aber er hielt es für ein Gebot der Höflichkeit zu warten, bis Pavel zu einer Antwort bereit war.
»Bevor ich hierherkam, hatte ich eine Arztpraxis«, sagte er schließlich.
»Arztpraxis?«, fragte Bruno, dem das Wort nicht geläufig war. »Dann warst du also nicht gut?«
Pavel lächelte. »Ich war sehr gut«, sagte er. »Du musst wissen, ich wollte immer Arzt werden. Seit ich ein kleiner Junge war. Seit ich so alt war wie du.«
»Ich will Forscher werden«, sagte Bruno schnell.
»Dann wünsche ich dir Glück«, sagte Pavel.
»Danke.«
»Hast du schon etwas entdeckt?«
»In unserem Haus in Berlin gab es viel zu erforschen«, entsann sich Bruno. »Aber es war auch ein sehr großes Haus, größer als du dir vermutlich vorstellen kannst, deshalb gab es viele Ecken und Winkel zu erforschen. Hier ist das anders.«
»Hier ist alles anders«, stimmte Pavel zu.
»Wann bist du in Aus-Wisch angekommen?«, fragte Bruno.
Pavel legte die Karotte und den Schäler kurz hin und dachte nach. »Ich glaube, ich war schon immer hier«, sagte er schließlich leise.
»Du bist hier aufgewachsen?«
»Nein«, sagte Pavel und schüttelte den Kopf. »Nein, das nicht.«
»Aber eben hast du gesagt ...«
Bevor er fortfahren konnte, meldete sich Mutters Stimme von draußen. Kaum hörte er sie, sprang Pavel blitzschnell von seinem Platz auf und ging mit den Karotten und dem Schäler samt der Zeitung mit den Schalen zur Spüle zurück, kehrte Bruno den Rücken zu, senkte den Kopf und sagte nichts mehr.
»Was ist denn mit dir passiert?«, fragte Mutter, als sie in der Küche erschien. Sie beugte sich vor und untersuchte das Pflaster auf Brunos Schnittwunde.
»Ich habe eine Schaukel gebaut, und dann bin ich runtergefallen«, erklärte Bruno. »Und dann hat mich die Schaukel am Kopf getroffen, und ich wäre fast in Ohnmacht gefallen, aber Pavel kam raus und hat mich reingebracht und alles sauber gemacht und mir einen Verband angelegt, und es hat ganz schlimm gebrannt, aber ich habe nicht geweint. Nicht ein einziges Mal, stimmt's, Pavel?«
Pavel wandte sich ihnen leicht zu, hob aber nicht den Kopf. »Die Wunde ist gereinigt«, sagte er leise, ohne auf Brunos Frage einzugehen. »Es besteht kein Grund zur Sorge.«
»Geh in dein Zimmer, Bruno«, sagte Mutter, die jetzt höchst verunsichert aussah.
»Aber ich ...«
»Keine Widerrede – geh in dein Zimmer!«, wiederholte sie, und Bruno rutschte vom Stuhl, verlagerte das Gewicht auf sein, wie er es nennen wollte, böses Bein, und es tat ein bisschen weh. Er drehte sich um und ging aus dem Zimmer, hörte aber noch auf dem Weg zur Treppe, wie Mutter sich bei Pavel bedankte, und das freute Bruno, weil bestimmt allen einleuchtete, dass er ohne Pavel verblutet wäre.
Er hörte noch etwas, bevor er nach oben ging, und zwar den letzten Satz, den sie zu dem Kellner sagte, der angeblich Arzt war.
»Wenn der Kommandant fragt, sagen wir, ich habe Bruno verarztet.«
Bruno fand es sehr eigennützig von Mutter, dass sie den Verdienst für etwas einstrich, was sie gar nicht getan hatte.
Kapitel acht
Warum Großmutter hinausstürmte
Die beiden Menschen, die Bruno am meisten fehlten, waren Großvater und Großmutter. Sie lebten zusammen in einer kleinen Wohnung in der Nähe der Obst- und Gemüsestände, und um die Zeit, als Bruno nach Aus-Wisch zog, war Großvater fast dreiundsiebzig Jahre alt, was ihn in Brunos Augen zum ältesten Mann der Welt
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