Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)
vorstellen, dass meine Antwort anders als »ja« gelautet hätte. All die theoretischen Debatten über Ethik können die Forderungen des Augenblicks nicht ändern: das schreiende Baby auf dem Untersuchungstisch, sein aufgeblähter Bauch, der offenkundig besorgte Arzt, sein Vater, der dämlich daneben steht. Der Schrei des körperlichen Kindes und seiner Not.
Erst später, allein, nachts, nach stundenlangen Kämpfen, damit er einschlief, die nur dazu führten, dass ich selbst schlaflos war, dachte ich manchmal darüber nach, was sein Leben uns kostete, und an die Alternativen. Hatte der Arzt mich gefragt, ob ich wollte, dass Walkers Leben endete, so wie die Natur es wohl beendet hätte? Ich saß auf der Hintertreppe unseres kleinen Hauses mitten in der Stadt um vier Uhr morgens, rauchte und dachte das Undenkbare. Kriminelle Gedanken oder zumindest bizarre: Was war, wenn wir keine außergewöhnlichen Anstrengungen unternahmen? Was war, wenn er krank wurde und wir uns nicht so stark bemühten, damit es ihm wieder besser ging? Nicht Mord, bloß die Natur. Aber selbst, als ich über diese schwerwiegenden Pläne nachdachte, wusste ich sofort, dass ich sie nie in die Tat umsetzen würde. Ich will gar nicht herumprahlen, mein Zögern war nicht ethisch oder moralisch begründet. Es war ein eher mittelalterlicher Drang, instinktgesteuert und physisch, die Angst vor einer bestimmten Form des Versagens, die Angst vor Vergeltung, wenn ich den dumpfen Schrei seines Fleisches, seines Körpers und seiner Bedürfnisse ignorierte.
In jedem Falle fühlte ich mich wie ein Ochse, der unter sein Joch schlüpft. Ich konnte schon die schweren, tragischen Jahre, die auf mich zukamen, im Voraus fühlen, so sicher wie schlechtes Wetter, es gab Nächte, in denen ich sie sogar begrüßte. Endlich ein Schicksal, das ich nicht selbst erwählen musste, ein Geschick, das ich nicht vermeiden konnte. In diesem Gedanken lag ein winziger Schimmer von Licht, die Erleichterung, mit der man sich dem Unausweichlichen unterwarf. Im Übrigen waren es die schlimmsten Nächte meines Lebens. Ich kann nicht erklären, warum ich das nicht anders hätte haben wollen.
Bevor Walker geboren wurde, nach der Geburt unseres ersten Kindes Hayley, führten meine Frau und ich die üblichen modernen Gespräche darüber, ob wir ein zweites Kind bewältigen konnten. Ich liebte Hayley, sie war das Beste, was mir je widerfahren war, aber ich war mir nicht sicher, ob wir uns noch ein zweites Kind leisten konnten. Ich wollte, dass Hayley bei ihren künftigen Kämpfen gegen uns Verbündete hatte, mir gefiel auch der Gedanke an eine größere Familie, aber Johanna und ich waren beide Autoren und hatten nie viel Geld. Ich wollte eine gewisse Bestätigung, dass ich meine Ambitionen nicht aufgeben musste. Ein Freund meinte: »Sag deiner Frau, dass du kein ewig häuslicher Papa werden willst«, was ich auch tat, worauf Johanna entgegnete: »Ich weiß.« Es war meine Durchlässigkeit, meine Anfälligkeit, die mich mehr besorgte: Ich suchte andauernd nach einem festen Standpunkt. Und natürlich war da auch diese gigantische Entscheidung selbst, ein Kind in diese Welt zu bringen – ein großer Schritt im Leben, der in völligem Versagen oder schlimmer noch in größtem Kummer enden konnte. Als junger unverheirateter Mann hatte ich oft verheiratete Paare gesehen, die sich auf der Straße stritten oder zusammen im Restaurant beim Essen saßen und sich für eine halbe Stunde am Stück anschwiegen. Warum sollte ich so etwas tun?, dachte ich mir. Später, nachdem ich geheiratet hatte, sah ich Paare, die von ihren Kindern völlig mitgenommen waren, und fragte mich: Warum sollte ich so etwas tun? Und der Anblick eines Ehepaares mit einem behinderten Kind erfüllte mich mit Schrecken. Nicht der Anblick des Kindes selbst, sondern der Gedanke an die Last. Ich konnte mir nichts Schlimmeres vorstellen.
Die Diskussion über ein zweites Kind endete so, wie solche Diskussionen oft enden: Wir überließen uns dem natürlichen Lauf der Dinge und sorgten relativ schnell für ein Brüderchen für Hayley. Sie war drei, als Walker geboren wurde. Ein Teil von mir war überhaupt nicht überrascht, dass Walker behindert war: Er war meine Quittung, meine Erziehung. Von der ersten Nacht an, in der ich ihn im Bett in den Arm nahm, um ihn zu füttern, konnte ich dieses Band zwischen uns fühlen, das Band, das besagte, dass wir miteinander verknüpft waren, dass ich ihm etwas schuldete.
Nachdem Walker geboren
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