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Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)

Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)

Titel: Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Brown
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wurde jetzt aufmerksamer, seine Augen folgten jetzt immerhin Gegenständen, auch wenn sein Kopf etwas träge war. Er hatte zu lächeln begonnen. Gute Zeichen, dachte der Arzt.
    Aber abends zu Hause blätterte Saunders die medizinische Fachliteratur über seltene Krankheiten durch. Ihm gefiel nicht, was er da entdeckte: Speziell ein Forschungspapier mit Bildern von Kindern, die beinahe genauso aussahen wie Walker Brown. Die Anomalie war erst kürzlich beschrieben worden und schockierend selten, ein spontaner genetischer Defekt, der eine ganze Reihe von miteinander verknüpften Symptomen nach sich zog, die man in ihrer Gesamtheit als Cardio-Faciales-Cutanes-Syndrom bezeichnete. Die umfassende Anstrengung, das komplette menschliche Genom zu klassifizieren, lag noch vor uns, der Vorgänger, klinische Genetik, war immer noch zu weiten Teilen ein Detektivspiel aus Beobachtungen und Ahnungen. Symptome überlappten sich mit anderen Syndromen, und Fehldiagnosen waren sehr verbreitet. Das Shprintzen-Syndrom sah wie CFC aus – Saunders entschied sich beinahe dafür – aber es war eben doch nicht dasselbe: Diese Kinder hatten Augenbrauen. Das Noonan-Syndrom war weitaus verbreiteter als CFC und hatte eine ganze Reihe von Übereinstimmungen, aber gewöhnlich war die Entwicklungsverzögerung weitaus milder. Das Gleiche galt für das Costello-Syndrom, mit dem Unterschied, dass Costello-Kinder »weichere« Gesichtszüge hatten (was immer das hieß) und mehr zu bestimmten Krebserkrankungen neigten als CFC er. Viele Genetiker glaubten, dass CFC und das Costello-Syndrom nur Varianten des Noonan-Syndroms waren, andere bestanden darauf, dass es unterschiedliche Anomalien waren. Meine Frau und ich hofften weiterhin, dass irgendjemand sich einmal festlegen würde und damit auch wirklich hilfreich wäre, aber das Einzige, bei dem sich die Genetiker sicher zu sein schienen, war, wie wenig sie wussten.
    Im Spätherbst 1996 hatte Walker, soweit Norman Saunders es beurteilen konnte, bereits fast alle Anzeichen von CFC entwickelt. Die möglichen Konsequenzen waren ernüchternd: Lernschwierigkeiten, Gehörverlust, geistige Behinderung, sprachliche Behinderung. »Soziale Fähigkeiten können die geistigen Fähigkeiten übertreffen«, wie ein Forscher eher gnädig notierte. Zehn Prozent entwickelten schwere psychische Störungen in den Jahren nach dem zehnten Lebensjahr.
    In jenem November übertrug Saunders Walkers Fall der genetischen Abteilung des Hospital for Sick Children in Toronto. Zu Hause hatte sich das, was als normale Sorge für ein Frühchen begonnen hatte, in einen Zustand vierundzwanzigstündiger Dauerbeunruhigung verwandelt. Etwas mit unserem Jungen stimmte ganz und gar nicht.
    Jedes Elternteil eines Kindes mit einem Syndrom kann sich an den Tag erinnern, an dem man ihm oder ihr gesagt hat, man solle die genetische Abteilung aufsuchen. Es ist der zweite Kreis der diagnostischen Hölle. Was bis zu diesem Zeitpunkt eine Frage der Gesundheit und damit etwas, das man beheben kann, gewesen war, ist nun plötzlich eine Frage der Wissenschaft und in genetischen Stein gemeißelt. Ich kann mich immer noch daran erinnern, wie jener Tag näherrückte, wie die Zeit Gestalt annahm, stillstand. Es hatte einige Kilometer vor uns einen Unfall auf der Schnellstraße gegeben, wir mussten umkehren. Der Schock war ähnlich wie der, wenn man seinen Ehering im Meer verliert: Man weiß, dass er weg ist, dass er nicht mehr aufzufinden ist. Dies war nicht etwas, das wir heilen konnten, es fühlt sich archaisch an, urtümlich. An einem Tag war Walker noch ein Teil unseres Lebens gewesen, am nächsten ein Fehltritt der Evolution. Ich hasste diese Vorstellung, aber jetzt verstand ich das Schicksal, das, worüber die Griechen immer geredet hatten. Plötzlich schien sich nichts mehr so recht zu bewegen, und ich fühlte mich ein Jahrzehnt älter.
    Das Gebäude, in dem sich die genetische Klinik des Hospital for Sick Children befindet, ähnelte einem futuristischen Raumschiff: rostfreier Stahl, rein, keine Kerben oder Löcher. Normalerweise waren die Kliniken, Notfallambulanzen, Institute und Einrichtungen, zu denen wir mit Walker kamen, kleine Irrenhäuser – Chaos, Kinder, die gleichzeitig in verschiedenen Tonlagen schrien. Mütter, die sich die Haare rauften. Sozialarbeiter mit Klemmbrettern. Ärzte, zumindest die männlichen, die versuchten, sich möglichst unauffällig aus allem herauszuhalten. Piepsende Maschinen. Einmal zählte ich zehn verschiedene Pings

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