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Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)

Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)

Titel: Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Brown
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wurde, dachte ich, dass die Diskussion über mehr Kinder nachlassen würde, aber stattdessen intensivierte sie sich noch: Jetzt wurde Johanna von einem neuen Drang getrieben, dem nach einem dritten Kind. Sie wollte Walker durch Normalität einklammern. Sie wollte Hayley vor der Einsamkeit bewahren, mit einem schwer behinderten Bruder aufwachsen zu müssen, der ihr nie die Art von Zusammensein bieten könnte wie eine normale Schwester oder ein normaler Bruder. Aber es war undenkbar, und ich war derjenige, der nein sagte. Das Schuldgefühl, das sich danach einstellte, war so unvermeidlich wie das Wetter.
    In jenem ersten Monat war Walker noch drei Mal beim Arzt. Er kotzte wie ein Profi und schlief niemals. Seine Mutter war ein Gespenst. Dr. Saunders notierte nun bei jedem Besuch anatomische Details: ovale spatenförmige Daumen, leichte Blepharophimosis (kleine, nach unten schräg gestellte Augen), orbitaler Hypertelorismus (Augen, die weit auseinander lagen). Er benutzte immer die wissenschaftlichen Begriffe auf dem Krankenblatt des Jungen – das war für den Austausch mit anderen Ärzten akkurater. Es waren ernste Ausdrücke, die einen professionellen Standard von Genauigkeit vermittelten. Aber es war sehr schwer, bei Walker Brown diese Art von Genauigkeit zu erzielen. Beide Hoden waren jetzt allerdings tastbar, ein kleiner Etappensieg.
    »Es ist noch zu früh, um sich Sorgen zu machen«, sagte Saunders zu Johanna.
    Er hatte eine Begabung, Mütter zu beruhigen, einer der Gründe, warum er als einer der besten Kinderärzte in der Stadt galt. Er war knapp fünfzig, schlank, gut angezogen (er trug immer eine Krawatte), und er wusste, wie man lockere Konversation pflegt. Die meisten Mütter, die ich kannte, waren in ihn verliebt. Sie brezelten sich auf, wenn sie in seine Praxis fuhren, damit ihre Kinder eine Auffrischungsimpfung bekamen.
    Was seine Patienten nicht wussten, war, dass ihr geliebter Dr. Saunders sich seit Langem schon für seltene Krankheiten und ihre menschlichen Folgen interessierte. Seine Frau Lynn war Sonderschullehrerin gewesen. Als Kinderarzt verdiente man nicht so viel wie mit den meisten anderen Spezialisierungen, aber es war eine hoffnungsfrohe Sparte: Er konnte die meisten Kinder mit schnellen und klaren Eingriffen kurieren. Die Male, bei denen ihm das nicht gelang, hinterließen tiefe Spuren bei Saunders: Er sah in diesen Kindern und ihren Leben etwas Heroisches. (Kurz bevor er im Frühjahr 2007 im Alter von sechzig Jahren an Darmkrebs starb, konnte er noch die Gründung der Norman Saunders Initiative in Complex Care am Kinderkrankenhaus von Toronto anstoßen.) Privat war Saunders besessen von der Geschichte der britischen Seefahrt im achtzehnten Jahrhundert und ihren Helden. Bei den meisten schwer erkrankten oder behinderten Kindern war auch Saunders ein Navigator in unbekannte Gewässer, ein Entdecker und Forscher.
    Aber seine Wachsamkeit bei Walker machte Johanna wahnsinnig. Sie kam von einem Termin nach Hause, zwängte sich mit einer Babytasche, einem Kinderwagen und einem neuen Apparat, mit dem wir den Jungen zu füttern versuchten, durch die Tür, gab ihn Olga und sagte: »Ich bin so wütend auf Norm. Normalerweise weiß er genau, was zu tun ist. Aber bei Walker, da guckt er immer nur.«
    Was Saunders da tat, war der Versuch, herauszufinden, ob die Abweichungen im Erscheinungsbild des Jungen – um gar nicht erst von seiner Schlaffheit und seinem fehlenden Gedeihen zu sprechen – Zeichen für ein Syndrom waren. Und wenn ja, für welches? Es gab Tausende medizinischer Syndrome und mindestens sechstausend seltene Krankheiten. Für sich genommen deutete etwa die Blepharophimose (der zusätzliche Zwischenraum zwischen Walkers Augen) auf eine ganze Reihe: Sagen wir, das Van den Ende-Gupta-Syndrom oder das Ohdo-Syndrom oder das Carnevale-Syndrome. Zu der Zeit war das Internet noch eine ganz neue Einrichtung, die die Genetiker täglich mit Listen von Symptomen fütterten, was im Gegenzug die Diagnose sowohl leichter als auch komplizierter denn je machte. Es war, als würde man versuchen, in einem riesigen Garten voller exotischer Pflanzen eine ganz bestimmte zu finden, wobei eine bizarrer war als die nächste.
    Langsam, aber sicher hatte Walker die sechzehnte Woche seines Lebens erreicht. Als der erste Herbst seines Lebens in den Winter hinübergraute, begann Saunders eine vorsichtige Diagnose zu stellen – noch nicht, dass etwas grundsätzlich falsch war, aber dass etwas nicht stimmte. Das Kind

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