Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)
selbstsicher bin, hoffe ich, diese Ziele könnten vielleicht als ein paar Schritte zu dem hin zählen, was der Evolutionsbiologe Julian Huxley im Sinn hatte, als er 1943 seinen berühmten Essay »Evolutionäre Ethik« schrieb. Eine klarere ethische Vision als Menschen, schreibt Huxley, »wird uns nie daran hindern, unter dem zu leiden, was wir als Ungerechtigkeit durch die Kräfte des Kosmos empfinden – angeborene Verkrüppelung, unverdientes Leiden, körperliche Katastrophen, der frühe Tod unserer Lieben. Solche kosmische Ungerechtigkeit repräsentiert die Beharrlichkeit des Zufalls und seine Amoralität im menschlichen Leben: Wir können vielleicht allmählich ihr Ausmaß verringern, aber wir werden sie ganz sicher nicht abschaffen können. Der Mensch ist der Erbe der Evolution: Aber er ist auch ihr Märtyrer.
Aber der Mensch ist nicht nur der Erbe der Vergangenheit und das Opfer der Gegenwart: Er ist auch der Repräsentant, durch den die Evolution ihre weiteren Möglichkeiten entfalten mag … Er kann seine Ethik ins Herz der Evolution injizieren.«
Das Gesicht Gottes? Entschuldigung, nein. Walker ist eher wie ein Spiegel, der alles Mögliche zurückspiegelt, einschließlich meiner eigenen Entscheidungen. Für mich – und dies ist die größte und zugleich dauerhafteste Art, wie ich an ihn denken kann, neben all den anderen: Kopfstoßer und Beagle und hyperkinetischer Maniker und gurgelnder Sabberer und gelegentlich neugieriger Junge und trauriger, lieber Sohn – ist Walker wie das Gefäß, über das Wallace Stevens geschrieben hat:
I placed a jar in Tennessee,
And round it was, upon a hill.
It made a slovenly wilderness
Surround that hill.
The wilderness rose up to it,
And sprawled around, no longer wild.
The jar was round upon the ground
And tall and of a port in air.
It took dominion every where.
The jar was gray and bare.
It did not give of bird or bush,
Like nothing else in Tennessee.
Ich sehe ein, dass das nicht sehr viel ist für den Anfang, kein allzu großes Licht in der Dunkelheit. Es flackert ziemlich stark, schnell. Aber besser kann ich es nicht.
Als wir für den zweiten Versuch einer Kernspintomographie von Walkers Gehirn wieder ins Krankenhaus zurückkehrten, warteten wir erneut stundenlang. Wieder schob ich ihn in seinem schmucken, roten Sportwagen die Flure rauf und runter und dann durch die Tür hinaus in den größeren Korridor und wieder zurück, dann bis zur Kaffeestation und wieder zurück. Drei Stunden vergingen.
Schließlich ließ ich den Sportwagen stehen und setzte mich mit dem Rücken zur Glasursteinwand in den Korridor neben das Wartezimmer. Walker stand einen halben Meter entfernt von mir. Olga war irgendwo hinter ihm.
Plötzlich schwankte er und fiel mir wie ein verrutschender Stapel Teller in die Arme. Ich sah, wie er aufschaute und sich orientierte. Es war nicht zu verkennen, was gerade geschah: Er hatte einen Anfall. Ich hatte Berichte über die Anfälle anderer CFC -Kinder gehört, und die Mitarbeiter in seinem Heim hatten bei zwei Gelegenheiten gedacht, er habe gerade eine leichte Attacke. Aber so etwas hatte ich noch nie gesehen, nicht bei Walker. Seine Augen begannen, wie Metronome hin und her zu zucken, seine Arme zitterten leicht. Sein Herz, ich konnte das durch meine Beine hindurch spüren, raste wie das eines Rotkehlchens. Er versuchte, mir in die Augen zu sehen. Er sah verängstigt aus.
»Brauchen Sie Hilfe?«, fragte ein anderer Vater vom Vorraum her, aber ich schüttelte meinen Kopf. Ich wusste, was zu tun war. Ich wusste, dass ich seinen bleichen Körper in meinen starken Körper bergen und mit ihm warten musste, während das Schaudern vorüberging, dass ich da sein musste, wenn seine zuckenden Augen mich wieder fanden. Zwei Minuten verstrichen. Es war anders als alles andere zuvor. Eine zufällige und unkontrollierte elektrische Entladung der Nervenzellen: Das ist die medizinische Erklärung eines Anfalls.
Aber nicht das beschäftigte mich. Ich hielt ihn so ruhig wie möglich in meinen Armen, und ich dachte: So wird es sein, wenn er stirbt. So wird es sein. Es gab nicht sehr viel, was man jetzt noch tun konnte. Ich hatte keine Angst. Ich war ihm schon so nah, wie man nur sein konnte, es gab keinen Abstand mehr zwischen meinem Sohn und mir, keinen Spalt, kein Blatt, keine Erwartung oder Enttäuschung, kein Versagen oder Erfolg: Nur das, was er war, ein in Ohnmacht gefallener Junge, mein schweigender, manchmal lachender Gefährte und mein Sohn.
Weitere Kostenlose Bücher