Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)
eine MRT , eine Magnetresonanz- oder Kernspintomographie, ein umfassendes Bild von seinem Gehirn. Sechs Monate später bat man uns, um acht Uhr morgens auf der MRT -Station des Hospital for Sick Children in Toronto zu erscheinen, meinem üblichen Stammlokal. Die MRT -Station befand sich im ausgedehnten Untergeschoss des Krankenhauses, am Ende eines langen, langen Korridors. Die Wände waren beige oder gelb oder hellblau, wie alle Wände in jedem Krankenhaus.
Walker und ich waren die Ersten. Um halb zwölf, dreieinhalb Stunden später, warteten wir immer noch auf den Arzt. Es ist schon irritierend, dreieinhalb Stunden auf einen Arzt warten zu müssen, mit dem Sie einen festen Termin vereinbart haben, wenn Sie ein gut erzogenes, normales Kind haben. Dreieinhalb Stunden mit einem heftig schreienden, um sich schlagenden, behinderten Kind ist die Sorte von Erfahrung, die erwachsene Männer dazu bringt, die Menschen am Empfang anzuschreien. Aber diese Einsicht musste den Leuten selbst in den besten Kinderkrankenhäusern des Landes wohl erst noch dämmern.
Schließlich erschien eine junge Anästhesistin in königsblauem Arztkittel. Sie informierte mich darüber, dass sie einen aktuelleren Bericht von Walkers Kardiologen benötige, bevor sie ihm die Narkose verabreichen könnte, die er für das MRT brauche.
»Das hat mir niemand erklärt«, sagte ich so neutral wie möglich. »Wie auch immer, seine Herzgeräusche gehen seit Jahren zurück. Sie existieren praktisch nicht mehr.«
»Ich brauche trotzdem einen neueren Bericht.«
»Aber er war erst vor einem Monat hier und hat eine Zahnreinigung erhalten«, sagte ich. »Dafür haben sie ihn auch betäubt – Sie können das in seiner Krankenakte nachschlagen.«
»Das genügt nicht.«
»Sie könnten den Zahnarzt anrufen, der arbeitet hier im Krankenhaus, er wird das sicher bestätigen.«
»Ich kann den Zahnarzt nicht anrufen.«
Also fuhren wir wieder nach Hause. Wir warteten weitere fünf, sechs, sieben Wochen auf einen neuen MRT -Termin, während ich die Kopie eines Formulars besorgte, das bereits in seiner Krankenakte vorlag, ein Formular, auf dem der Kardiologe all das wiederholte, was ich bereits wusste und was auch jeder andere Arzt wusste, nämlich dass Walkers Herzgeräusche unbedeutend waren. Aber da war ich schon zu dem Schluss gekommen, dass die junge Anästhesistin wahrscheinlich schlicht durch den Anblick meines kleinen Freak-Jungen verängstigt gewesen war; er hatte sie erschreckt, sie wusste nicht, wie weit er von der Normalität entfernt war.
Wieder warteten wir drei Stunden lang. Diesmal war das Wartezimmer noch überfüllter und interessanter: Ein fünfjähriges blindes Mädchen las laut aus einer Bibel in Braille-Schrift vor, aus dem Buch der Sprüche. Schließlich winkte eine Schwester Walker und mich in einen Vorraum und dann in einen weiteren Vorraum und in einen dritten Vorraum, und schließlich gab sie ihm seine Narkose und sie führten die Kernspintomographie durch.
Drei Wochen später gelang es mir, den zuständigen Neurologen dazu zu bringen, mir zu erzählen, was sie herausgefunden hatten. Er hieß Raybaud, kam aus Frankreich, war braun gebrannt, fit, präzise. Er hatte die Angewohnheit, eine Menge Informationen in ein halbes Dutzend Wörter zu verpacken, eine für einen Nicht-Neurologen wie mich derart einschüchternde Angewohnheit, dass ich allmählich zu glauben begann, ich bräuchte selbst ein MRT .
Walker hatte keine Neurofibromatose. Er hatte keine unzureichende Myelinscheide um seine Nervenzellen. »Seine Probleme liegen auf der funktionalen Ebene, nicht auf der physiologischen«, sagte der Arzt – das Problem war auch, dass Neurologen mehr und mehr über Hirnphysiologie verstanden (zu einem großen Teil dank der MRT s), aber immer noch sehr wenig darüber, wie das Gehirn neurochemisch funktioniert.
»Gibt es irgendwelche Anomalitäten in seinem Gehirn?«, fragte ich.
»Ja, eine Menge.«
»Wissen Sie, was sie bedeuten?«
»Nein. Man hat entweder ein normales Gehirn oder ein anormales Gehirn. Anormal kann hochbegabt oder minderbegabt heißen.«
»Ist Walker hochbegabt?«, sagte ich. Ich gebe zu, ich sagte das mit einem Hauch von Ironie.
»Nein«, antwortete Dr. Raybaud ganz unironisch.
Das Gespräch ging so weiter. Raybaud war ein angenehmer Mann und sogar hilfsbereit, aber es gab Augenblicke, in denen ich seinen eigenen ultra-sachlichen Schädel gern geöffnet hätte. Möglicherweise mit einem Beil. Es war natürlich nicht
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