Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)
Schwierigkeiten, ein behindertes Kind aufzuziehen, nicht kleinreden. Aber es sagt etwas über unsere gesellschaftliche Entwicklung aus, dass so etwas zu einem solch gewaltigen Handicap geworden ist. Es ist einfach ein Fehler, an diese Menschen in Kategorien von geringer als denken. Es gibt kein geringer als . Es gibt bloß anders als . Es sind nicht bloß die großen Geister, die zählen. Es sind auch die großen Seelen.«
Jedes Mal, wenn wir jemanden kennen lernen, der ernsthaft behindert ist, stellt er uns, glaubt Jean Vanier, zwei Fragen: Betrachtest du mich als Mensch? Liebst du mich? Je häufiger wir die Behinderten auf ihrem eigenen Territorium antreffen, glaubt Vanier, desto stärker entwickeln sich auch unsere Antworten. Anfangs empfinden wir Angst vor ihrem Erscheinungsbild und ihrem Verhalten, dann erleben wir Gefühle des Mitleids, durchlaufen das Stadium, in dem wir ihnen helfen und sie respektieren, aber sie noch immer als geringere Wesen ansehen, bis wir schließlich »Erstaunen und Dankbarkeit« erleben und »entdecken, dass sie, indem wir behinderten Menschen nahe kommen und eine authentische Beziehung zu ihnen entwickeln, auch uns verändern.«
In Vaniers letztem und höchstem Stadium des Bewusstseins »sehen wir das Antlitz Gottes in den Behinderten. Ihre Anwesenheit ist ein Zeichen Gottes, der die › Narren ausgewählt hat, um die Starken, die Stolzen und die sogenannten Weisen dieser Welt zu irritieren ‹ . Und so sind die, die wir als schwach oder randständig ansehen, in Wirklichkeit die Wertvollsten und Mächtigsten unter uns: Sie bringen uns näher zu Gott.«
Ich wünschte, ich könnte an Vaniers Gott glauben. Aber die Wahrheit ist, ich sehe nicht das Gesicht des Allmächtigen in Walker. Stattdessen sehe ich das Gesicht meines Jungen, ich sehe, was menschlich ist und gleichzeitig hübsch und mit Makeln behaftet. Walker ist kein Heiliger, und auch ich bin es nicht. Ich kann es nicht ertragen, dabei zuzusehen, wie er sich jeden Tag schlägt, aber ich kann versuchen, zu verstehen, warum er es tut. Je mehr ich ringe, um mich meinen Grenzen als Vater zu stellen, desto weniger will ich ihn missen. Nicht nur, weil uns ein körperliches Band verbindet, etwas Einfaches und Großes, nicht nur, weil er mir den Unterschied zwischen einem echten Problem und bloßem Klagen beigebracht hat, nicht nur, weil ich durch ihn ernsthafter geworden bin, mehr auf die Zeit achte und Hayley und meine Frau und meine Freunde und das Schöne, das eines Tages verebbt, mehr zu schätzen weiß. Ich habe schlicht begonnen, ihn so zu lieben, wie er ist, weil ich entdeckt habe, dass ich das kann, weil wir sein können, wer wir sind, müder Vater und gebrochener Sohn, ohne Veränderung oder Entschuldigung, im Hier und Jetzt. Die Erleichterung, die mit so einer Beziehung einhergeht, überrascht mich immer noch. Mit diesem Jungen kann man nicht planen. Ich gehe dahin, wohin er geht. Er ist vielleicht ein schadhafter Effekt der Evolution, was die Ansichten der Genetiker anbelangt, aber er hat ein paar Betreuer und Begleiter, um das zu entwickeln, was Darwin selbst in Die Abstammung des Menschen die evolutionären Vorzüge der »sozialen Instinkte« nannte, »Liebe und die ausgeprägte Emotion der Sympathie.« Darwins Gegner wiesen darauf hin, dass der Mensch schwächer sei als die Affen, und daher sei es nicht logisch, warum er, der Mensch, das Resultat vom »Überleben des Tüchtigsten« sein sollte. Aber die Evolution ist klüger als das, antwortete Darwin. »Wir sollten … nicht vergessen, dass ein Tier, das groß, sehr stark und sehr wild ist und das sich, wie der Gorilla, gegen alle natürlichen Feinde verteidigen kann, vielleicht nicht gesellig werden und kein soziales Verhalten entwickeln würde: Und dies hat dann am wirkungsvollsten die Entwicklung höherer geistiger Fähigkeiten verhindert, wie Sympathie und die Liebe zu seinen Gefährten. Daher ist es womöglich ein immenser Vorteil für den Menschen gewesen, von einer verhältnismäßig schwachen Kreatur abzustammen.«
Meine eigenen Ziele sind bescheiden: von Zeit zu Zeit Walkers Welt zu betreten, ein paar geistig behinderte Menschen kennen zu lernen (statt ihnen einfach nur zu erlauben, in meiner Umgebung zu leben), mich meiner Angst vor den zerbrochenen Menschen zu stellen, die Das Andere sind – sie nicht endgültig zu »heilen« oder zu retten, sondern einfach mit ihnen zusammen zu sein, bis ich nicht mehr weglaufen will. Wenn ich besonders optimistisch und
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