Der Kaefig - Roman
ihr gar nicht, was sie dort sah … oder was ihre Einbildung ihr vorspiegelte.
Hör auf mit dem Blödsinn, Grace Bucklan. Du bist durch die Hölle gegangen. Du bist von zu Hause ausgerissen. Du bist Tausende von Kilometern weit gefahren. Du bist angegriffen worden. Du bist von einem Fremden mit vorgehaltener Waffe gezwungen worden, ihm einen zu blasen. Jetzt bist du allein in einem gottverlassenen Canyon. Du hast seit Tagen nicht mehr richtig geschlafen.
Kein Wunder, dass dein Kopf verrückt spielt.
Das ist keine nackte tote Frau, die du da siehst. Es ist eine Frau in Not. Jetzt ist sie irgendwie bei diesem Haus gelandet. Die Bewohnerin spricht mit ihr von der Dachterrasse aus.
Sagt sie ihr, dass sie verschwinden soll?
Angetrieben von einem Gefühl der Ungerechtigkeit der Welt und dem überwältigenden Verlangen, heute
Nacht jemanden aus der Not zu retten, folgte Grace weiter dem Pfad.
Sie würde das Richtige tun.
Sie würde der halbverhungerten Frau helfen.
Dann würde sie ein reines Gewissen haben.
April sprach gedämpft mit ihrem Besucher. Sie wusste, dass er noch dort unten auf der Zufahrt war.
»Es ist spät … ich nehme an, es ist schon dunkel. Hast du Hunger? Oder Durst?«
Keine Antwort.
»Du könntest bestimmt eine kleine Pause gebrauchen, nachdem du den ganzen Weg hier raufgelaufen bist, oder?«
April hörte den Kies knirschen, als ihr Besucher einen Fuß bewegte. Sie deutete das als Ausdruck seiner Langeweile.
»Warum kommst du nicht für einen Moment rein? Du kannst dich ausruhen. Etwas Kaltes trinken.« Sie spielte mit dem weichen Stoff ihres Nachthemds. »Du hast es doch nicht eilig, oder?«
Wieder dieses Knirschen. Dieses Mal interpretierte sie es als Zustimmung. Sie würde ihn ins Haus lassen. Es würde ihm gefallen. Sie würde ihm gefallen. Er würde bleiben wollen. April war sich sicher.
Sie platzte fast vor Glück.
Eine Sekunde lang hörte sie, wie ihr Vater sie ermahnte: »Langsam, April, du kannst doch nicht einfach Fremde ins Haus einladen.«
Du bist nicht so einsam wie ich. Du weißt nicht, wie das ist. Einsame Menschen spüren manchmal so lange nicht einmal die Hand eines anderen, dass sie befürchten,
wahnsinnig zu werden. Einsamkeit ist wie Krebs. Es ist der Tod des Geistes.
Aufgeregt und besorgt klopfte sie auf die Mauer. Sie wollte nicht, dass ihr Besucher sich wieder in den Wald zurückzog. Er war auf jeden Fall unglaublich scheu.
»Warte einfach da. Bitte hab Geduld. Es dauert eine Weile, bis ich den Weg nach unten gefunden habe und die Tür aufmachen kann. Geh bitte nicht weg.«
Mit einer Hand hob sie ein wenig ihr Nachthemd an, um nicht zu stolpern, und eilte zur Treppe.
Tief im Inneren war sich April gewiss: Nach heute Nacht würde nichts mehr so sein wie zuvor.
Cody blickte zurück zu Pix. »Stimmt was nicht?«
Sie starrte ihn an. Ihre Augen leuchteten hell im Mondlicht. Ihr Gesichtsausdruck war … irgendwie … irgendwie eigenartig. Cody trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. Er war gerade in der Hoffnung, von dort einen besseren Blick zu haben, auf einen umgestürzten Baumstamm geklettert. Vielleicht könnte er Grace entdecken.
Seine Freundin benahm sich so seltsam. Andererseits hatte sie in den letzten vierundzwanzig Stunden gewaltig unter Stress gestanden.
Und jetzt war die kleine Schwester an der Reihe.
Sie stand mit gespreizten Beinen da, so dass ihr kurzer Rock sich spannte. Die Arme hingen an den Seiten herab. Ihre Schultern hatte sie jedoch hochgezogen, als wäre sie innerlich angespannt.
Aber das Schlimmste war ihr Blick. Sie starrte ihn unentwegt an.
Das Mondlicht verwandelt sie in einen Werwolf.
Nein.
Schlimmer.
»Cody?«
»Was ist los? Geht es dir nicht gut?«
»Ich hab nachgedacht … ich hätte nichts dagegen, wenn du mich küssen würdest.«
»Was?«
»Ich krieg es nicht aus dem Kopf … Ich möchte, dass du mich küsst.«
»Pix, hör auf mit dem Unsinn.« Er zwang sich zu einem Grinsen. Sie wollte ihn verarschen. Das hatte sie schon oft getan. »Wir suchen deine Schwester. Sie könnte in Schwierigkeiten stecken.« Er sprang von dem Baumstamm hinab.
»Sie benutzt dich nur, Cody. Sie wollte nur, dass du sie hierherbringst, damit sie zum Film kommt. Sie liebt dich gar nicht wirklich. Nicht auf die Art …«
»Pix.«
»Ich liebe dich.«
»Pix. Lass den Quatsch.«
Aber sie schien es ernst zu meinen.
Sie beugte sich vor, nahm mit beiden Händen seinen Kopf und zog ihn zu sich herab, so dass ihre Lippen sich
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