Der Kaefig - Roman
Hatte er nächtelang um Gesellschaft gebetet? Um einen Menschen, den er lieben kann und der ihn liebt?
Sanft sagte April: »Keine Sorge. Ich kann dich nicht sehen, aber ich weiß, dass du da bist.« Sie wartete einen Augenblick. »Ich heiße April Vallsarra. Bist du gekommen, um mich zu besuchen?«
Es kam keine Antwort. Ihr Besucher war tatsächlich so schüchtern, dass er kein Wort herausbrachte. April hoffte, dass er nicht die Nerven verlieren und weglaufen würde.
Sie sprach in beruhigendem Tonfall. »Was für eine herrliche Nacht. Ich wünschte, ich könnte die Sterne sehen. Aber du hast es bestimmt schon gemerkt, ich bin blind. Kannst du mir die Sterne beschreiben?«
Keine Antwort.
»Mach dir keine Gedanken. Ich kann sie mir vorstellen. Ich stelle sie mir als kleine runde Kissen vor. Wenn man sie anfassen könnte, würden sie sich warm und weich anfühlen.« Ihr Lachen trillerte leise durch die Nacht. »Es klingt seltsam, ich weiß. Aber ich habe sie nie
gesehen, nie irgendwas gesehen, deshalb muss ich mir, wenn mir jemand beschreibt, wie Dinge aussehen, ein eigenes Bild davon machen. Die Sonne stelle ich mir spitz und hart vor. Der Mond ist für mich weich und kühl. Sterne sind weich und warm, und wenn man sie berühren könnte, würden sie an den Fingerspitzen kribbeln. « Sie lächelte zur Zufahrt hinab. »Und als kleines Mädchen hab ich mir vorgestellt, dass man sie singen hören kann, wenn man sich Mühe gibt … leise, helle Stimmen, die liebliche Melodien summen.« Sie zuckte mit den Schultern. »Wenn einem so etwas Wesentliches wie das Sehen fehlt, ist das kaum zu ersetzen.« Sie dachte nach. »Dasselbe gilt für die Liebe. Wenn man in seinem Leben niemanden hat, den man lieben kann, dann versucht man, einen Ersatz zu finden. Aber das sind nur schlechte Kopien, denn es gibt keinen Ersatz für wahre Liebe …« Plötzlich war sie verlegen. »Da sieht man’s. Wenn jemand alleine lebt, fängt er an, zu viel zu reden. Was ist mit dir? Erzähl mir was von dir.«
Keine Antwort.
»Du musst ein Stück weg wohnen. Das nächste Haus ist fünf Kilometer entfernt. Und ich habe kein Auto gehört …«
Stille.
»Bist du zu Fuß gekommen?«
Nichts.
»Es ist eine schöne Nacht für einen Spaziergang. Angenehm kühl.«
Wieder dieses Geräusch, als würde ihr Besucher auf dem Kies von einem Fuß auf den anderen treten.
»Es spielt keine Rolle«, sagte sie freundlich. »Du musst nichts sagen. Ich verstehe auch so.« Sie lächelte. »Es ist
schön, jemanden hier zu haben. Wirklich, unglaublich schön.«
Sie spürte, wie der Wind ihre nackten Schultern streichelte. Das Negligé wurde gegen ihren Leib gedrückt. Es fühlte sich an, als glitten kühle Hände über ihren Rücken.
Wunderbare Gefühle.
April erschauderte. Vor Aufregung kribbelte ihr ganzer Körper. Sie bekam eine Gänsehaut an den Brüsten, und ihre Nippel richteten sich auf.
»Wir können hier miteinander reden, so lange du willst«, sagte sie. »Oder du kommst einfach rein.«
Grace konnte sehen, was geschah, aber sie konnte das Dickicht der Dornenbüsche vor der Zufahrt zum Haus nicht durchdringen. Wenn sie es versucht hätte, wäre sie in Fetzen gerissen worden.
Stattdessen würde sie weitere zweihundert Meter dem Pfad folgen müssen, um dann umzudrehen und durch das Eingangstor zu gehen.
Das, was sie sah, ergab nicht den geringsten Sinn. Zumindest kam es ihr äußerst seltsam vor.
Die Gestalt, der sie gefolgt war, stand ungefähr hundert Meter vor ihr im Mondlicht. Dahinter befand sich ein Haus mit Flachdach. Grace entdeckte auf der Dachterrasse eine zweite Gestalt. Eine Frau mit schulterlangem schwarzem Haar.
Die beiden schienen sich zu unterhalten. Aber sie waren viel zu weit entfernt, als dass Grace hätte verstehen können, was sie redeten. Sie beobachtete die Frau, der sie gefolgt war. Der Mond schien nicht besonders hell, und immer wieder schoben sich Wolken davor, so
dass das silberne Licht von tiefen Schatten verdrängt wurde.
In den hellen Phasen sah Grace das kupferfarbene Haar metallisch glänzen. Fantastisches Haar. Aber der Körper der Frau war geradezu ausgezehrt.
Irgendetwas stimmte nicht mit ihr.
Einmal, als der Mond durch die Wolken brach, drehte sie sich kurz um, als sähe sie Grace an.
Grace schreckte zurück.
Das ist keine Frau … das ist eine Leiche. Sie hat keine Augen, nur leere Höhlen.
Eine tote Frau, die durch die Gegend läuft?
Oder täuschte das spärliche Licht?
Grace erschauderte.
Es gefiel
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