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Der Kaiser des Abendlandes

Der Kaiser des Abendlandes

Titel: Der Kaiser des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns Kneifel
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Meer; es war ein außergewöhnliches Leben, das er in all diesen verschiedenen Landschaften geführt hatte. Seine Seele war voller unvergesslicher Bilder. Er hatte alle Hindernisse überwunden, die seinen Weg gekreuzt hatten – wenngleich er manchmal auch einfach nur Glück gehabt hatte.
    Schließlich hatte er Marseille erreicht, den Hafen mit all den großen Segelschiffen. Von dort aus hatte ihn die ›Ring des Dogen‹ nach Neapel gebracht. Anfangs war ihm oft unwohl gewesen, doch nach etwa zehn Tagen hatte ihn die Übelkeit nur noch bei hohem Wellengang gepeinigt. Er hatte gelernt, die kaum leserliche Schrift seines Vorgängers zu entziffern, und dessen Rechenfehler Seite um Seite korrigiert. In Neapel hatte Kapitän Piero Bicci einen Teil der Waren ausladen lassen; Elazar hatte alles kontrolliert und war dabei gewesen, als die Lasten gewogen wurden. Ebenso gewissenhaft hatte er die neu aufgenommene Ladung geprüft und genau ausgerechnet, an welcher Stelle im Schiffsbauch die schweren Kisten und die leichteren Säcke geladen werden mussten.
    Spätestens im Hafen von Neapel hatte Elazar das volle Vertrauen des Kapitäns erlangt, denn er hatte eindeutig beweisen können, dass einer der neuen Händler versuchte, den Kapitän zu betrügen. Während der weiteren Überfahrt hatten er und die wenigen anderen Seeleute sämtliche Arbeiten an Bord verrichtet, und von denen gab es mehr als genug. Oft hatte er sich, selbst mit den härtesten Burschen, in Ringkämpfen gemessen, die die Männer zum Spaß an Bord austrugen, und nach einem Monat waren ihm jeder Holzspan der ›Ring‹, jede Planke und jeder Flicken des Segels vertraut gewesen.
    In der Erinnerung an seine Zeit an Bord musste Elazar lachen und setzte seinen Weg entlang der gewundenen Straße fort, die zwischen flachen Hügeln zu den Toren in den hohen, unbezwingbaren Stadtmauern führte. Doch so unbezwingbar, wie sie jetzt auf Elazar wirkten, konnten sie eigentlich gar nicht sein. Immerhin hatten die Kreuzfahrer sie vor einem viertel Jahrtausend erstürmt und dahinter ein Blutbad angerichtet, bei dem etliche Juden und Muslime zu Tode gekommen waren und von dem heute noch mit Schaudern berichtet wurde. Viele Juden waren damals in Jerusalem auf ähnliche Weise verbrannt wie Elazars Angehörige im Mauerturm zu Überlingen.
    Während er auf die Stadt zuhielt, blickte Elazar genauer hin, aber er sah weder trutzige Stadttore mit wuchtigen Türmen noch aufragende Mauern aus riesigen Quadern. Die silberne Kuppel des Felsendoms leuchtete im frühabendlichen Licht. Zwischen Lastkamelen, hinter einer Eselkarawane und zwischen einzelnen Wanderern und kleinen Gruppen ging Elazar, der so kurz vor dem Ziel seiner Reise keine Eile mehr hatte, gemächlich weiter geradeaus.
    An viele Erlebnisse seiner Reise konnte er sich sehr genau erinnern. Während der Fahrt mit dem Schiff hatte er sowohl schreckliche Stürme als auch nervenaufreibende Flauten erlebt. Er hatte Gewicht verloren, war hagerer, kräftiger und sehniger geworden. Außerdem konnte er mittlerweile geschickt mit Messer und Dolch umgehen; die Matrosen der ›Ring‹ hatten es ihm während der letzten Monate beigebracht. Einen jüdischen Pilger erkannte in ihm auf den ersten Blick nun niemand mehr.
    Die ›Ring des Dogen‹ war von Neapel nach Madona weitergesegelt. Der Kapitän und Elazar hatten sich angefreundet, was zur Folge hatte, dass Letzterer nicht mehr sooft Planken schrubben und stinkendes Wasser aus der Bilge an Deck schleppen und über die Reling ins Meer entleeren musste wie zuvor. Er hatte die Einträge in das Bordbuch vorgenommen und in kurzen Sätzen alle für die Überfahrt wichtigen Vorkommnisse vermerkt: das Wetter, die Wellen, die Länge der Tagesfahrten, die Risse im Segel oder den Mangel an Frischwasser.
    In der Zwischenzeit hatte Elazar mit fassungslosem Staunen dem übermütigen Spiel der Tümmler zugesehen und Wale beobachtet, die Wassersäulen aus Löchern in ihrem Nacken hoch ausstießen, während sie die Wasseroberfläche durchfurchten. Das Meer hatte sich trotz der fortgeschrittenen Jahreszeit ruhig und mild gezeigt.
    Von Madona war das Schiff weiter nach Rhodos gesegelt, wo es ebenfalls eine venezianische Handelsniederlassung gab, bis es schließlich sein Ziel im Hafen von Paphos im Westen der Insel Zypern erreicht hatte.
    Dort war Elazar von Bord gegangen, hatte sich herzlich von Kapitän Bicci verabschiedet, der ihm versichert hatte, nie einen besseren Rechner und Schreiber auf den Planken

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