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Der Kaiser des Abendlandes

Der Kaiser des Abendlandes

Titel: Der Kaiser des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns Kneifel
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später… sie haben einen Fremden gefangen genommen. Aber es waren zu viele. Ich…«
    »Jetzt nicht mehr, wir sind zu zweit!« Suleiman drückte Seans Schulter und sagte drängend: »Komm mit!«
    Sean drehte sich um. Nebeneinander rannten sie durch die ruhige Gasse zum Grabmal zurück. Als sie dort ankamen, sahen sie, dass der vom fahlen Mondlicht beschienene Platz leer war. Nur Holzsplitter, ein Dolch und einige Stofffetzen lagen auf den Pflastersteinen. Auf einigen Platten sahen sie dunkle, feuchte Flecken, die sich wie eine Spur quer über den Platz zogen.
    »Sie sind weg«, sagte Suleiman. »Weißt du, in welche Richtung sie gerannt sind? Und was tut ein Fremder um diese Zeit beim Grabmal des Simon?«
    »Wenn es ein Jude ist«, Sean deutete keuchend auf die Blutspur und erinnerte sich an die geschickte, tapfere Gegenwehr des Mannes, der ebenso viele Angreifer wie er selbst gegen sich gehabt hatte, »dann hat er hier gebetet. Dorthin sind sie gerannt.«
    Er wies auf die Gasse, durch die der Fremde weggeschleppt worden war. Suleiman und er rannten hindurch, aber sie konnten niemanden mehr sehen. Es gab auch kein Geschrei, keine Hilferufe und keine Spuren. Die Nacht hatte den Überfallenen und dessen Angreifer verschluckt, als habe es sie nie gegeben. Nach einer Stunde ergebnisloser Suche setzten sich Suleiman und Sean auf einen Brunnentrog, kühlten sich die Gesichter und tranken gierig.
    »Es waren zu viele«, sagte Sean zögernd. »Aber sie haben keine Schwerter getragen. Jedenfalls haben sie keine benutzt. Mir scheint, sie wollten den Fremden nur verschleppen.«
    Suleiman trocknete sein Gesicht mit dem Jackenärmel und antwortete: »Wenn sie ihn entführt haben, lebt er noch. Wenn er noch lebt, finde ich heraus, wo sie ihn gefangen halten.«
    »Und wer ihn gefangen hält«, sagte Sean und stand auf. »Heute Nacht hab ich genug Abenteuer erlebt. Suchen wir weiter nach unschuldigen Opfern, Suleiman?«
    Der Freund schüttelte den Kopf. »Ich habe eine bestimmte Ahnung, was diesem armen Fremden zugestoßen sein mag. Aber es wird nicht leicht sein, die Wahrheit zu erfahren. Ich begleite dich zu deinem Haus.«
    »Du hast einen Verdacht?«
    »Mehr als das. Wenn ich Gewissheit habe, komm ich zu euch, und dann bereden wir alles.«
    »Einverstanden.«
    Sean hätte sich ohne Suleimans Hilfe in dieser Nacht hoffnungslos verirrt. Jede Gasse glich in seinen Augen der anderen bis aufs Haar. Aber Suleiman fand den Weg bis zur Tür von al-Mustansirs Haus sicher und schnell. Wieder einmal weckte Seans Klopfen die alte Mara.
    Suleiman umarmte Sean flüchtig und murmelte: »Warte auf mich. Tu nichts Voreiliges. Ich komme zu euch, ja?«
    »Inshallah!«, seufzte Sean und schlüpfte durch die Tür ins Haus. Es war totenstill. Er schob die Riegel vor, dankte Mara und huschte in sein Zimmer.

 
    4
     
     
     
    Der Kaiser des Abendlands
     
    Abu Lahabs Stimme hob sich; er reckte beide Arme zur Decke und befahl mit lauter Stimme: »Bei Allah! Du wirst schreiben, was ich dir sage, Sohn! Ich sage dir, was du schreiben musst. Es ist so wichtig wie das Wort des Propheten! Und ich will auch dein nachsichtiges Lächeln nicht sehen. Du bist arm wie eine Laus und kannst schreiben, und ich bin reich und kann’s nicht gut. Was ist besser?«
    Suleiman hütete sich davor, ihm die Antwort zu geben, die ihm auf den Lippen lag. Stirnrunzelnd erwiderte er: »Sag mir, was ich schreiben soll, und ich finde die richtigen Worte. Sag mir vor allem, an wen du deinen wichtigen Brief richten willst.«
    »An den Kaiser des Abendlands«, grollte Abu Lahab. »Nur mit ihm kann ich bereden, was wirklich wichtig ist.«
    »Der Kaiser des Abendlands!«, murmelte Suleiman und schüttelte kurz den Kopf. »Gibt es dort einen Kaiser? Woher weißt du… Na gut, ich schreib, was du willst. Du kannst dir vorstellen, wie lange ein solcher Brief unterwegs ist?«
    »Sehr lange. Etliche Monate. Aber das ist unwesentlich. Es kommt mir vielmehr sogar ganz recht.«
    Suleiman hatte vor sich ein großes Stück weißes Pergament und einige Blätter gelbliches Papier liegen. Er rührte mit einem Stäbchen die Tinte um und begann vorsichtig die Feder zuzuschneiden. Sein Vater und er saßen sich im Schatten des Terrassendaches gegenüber. Sonnenstrahlen fielen durch die Wipfel der Obstbäume und die raschelnden Palmwedel des Gartens. Abu Lahab richtete seinen Blick träumerisch in die Ferne und schien nachzudenken.
    Schließlich sagte Suleiman: »Ich werde mich erkundigen müssen, wie

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