Der Kaiser des Abendlandes
Tempel erhob sich aus der Mitte eines annähernd runden Platzes. »Und dieses seltsame Bauwerk? Was weißt du darüber?«
Suleiman zuckte mit den Schultern. »Nicht viel. Ich kenne es als Grab. Am besten fragst du Joshua, wenn du Genaueres wissen willst. Es ist das Grab eines jüdischen Hohepriesters namens Simon. Seit einiger Zeit erlaubt der Mamelucken-Sultan jüdischen Pilgern, es zu besuchen und dort zu beten.«
»Ich frage unseren gelehrten Freund«, versprach Sean. »Gehen wir also nach Scheich Jarrah und sehen uns um.«
Sie waren unbewaffnet und trugen die gewohnte Kleidung. Auf den ersten Blick unterschied sich dieser Stadtteil nicht von anderen Bezirken Jerusalems. Vielleicht drängten sich an manchen Stellen die Häuser enger aneinander, manche schienen kleiner und schmaler zu sein. Es gab weniger Mauern, hinter denen Gärten lagen, und die Haustüren schienen massiver zu sein. In den Gassen drängelten sich wie überall die Menschen, sie schoben sich in Werkstätten und Läden hinein, handelten, kauften und verkauften, und überall herrschte das übliche laute Stimmengewirr. Sean und Suleiman schoben sich durch die Menge.
Suleiman erklärte Sean alle Besonderheiten von Scheich Jarrah; Sean hatte im vergangenen halben Jahr viel Arabisch gelernt. Unzählige Fragen beantwortete Suleiman mit nicht nachlassender Geduld, und so war es ganz natürlich, dachte Sean, dass er auch viele Gebräuche und das richtige Verhalten inmitten der muslimischen Umgebung kennen lernte.
»Vielleicht geht Joshua hierher, mit seinem Freund, dem Rabbi ben Cohen«, sagte Sean und betrachtete das Grabmal. Das Gebäude wirkte seltsam fremd in dieser Umgebung. An manchen Stellen waren hebräische Schriftzeichen in die Wände gemeißelt worden, die Sean und Suleiman aus Joshuas Büchern kannten. »Und dann beten sie gemeinsam und reden über die Unterschiede der Religionen oder andere Dinge.«
»Er wird es uns sagen«, antwortete Suleiman und umrundete langsam das Grabmal des Hohepriesters. Sean hatte von Joshua erfahren, dass eigentlich im sogenannten Alten Bund Aaron und dessen Nachfolger so genannt wurden, auch die Obersten Priester der verschiedenen Heiligtümer von Eli und Silot. Die makkabäischen Hohepriester hatten sich selbst die Königswürde verliehen, und später waren sie von den Römern abgesetzt worden. Sean fragte sich, ob dieses Grabmal jenem Simon gehörte, den sie Bar Kochba genannt hatten und der den Aufstand gegen die Römer angeführt hatte? Aber eigentlich galten Gräber, die meist mit weißer Farbe gekennzeichnet wurden, den Juden als unrein. Wie verhielt es sich mit dem Grabmal hier? Sean würde Joshua viele Fragen stellen.
»Gehen wir weiter«, drängte Suleiman. »Es kann sein, dass Hasan uns nachgeschlichen ist und uns beobachtet. Dann würde mich mein Vater später fragen, was ich bei einem jüdischen Grabmal zu suchen habe.« Er lachte. »Ich habe von unseren Dienerinnen gehört, dass er wieder einmal im Königreich seiner Gedanken lustwandelt.«
»Wenn er erfährt, dass du mit einem Ungläubigen durch die Gassen der Stadt streifst, wird er nicht erfreut darüber sein«, sagte Sean.
»Ach, mir wird schon irgendeine Geschichte einfallen, die ich ihm erzähle, wenn es dazu kommen sollte. Damit habe ich ihn bisher noch immer zum Schweigen gebracht.«
Suleiman zog Sean so lange durch alle Gassen und über alle Plätze von Scheich Jarrah, bis sie durstig und hungrig geworden waren. Unter einem Zeltdach setzten sie sich an einen Tisch eines Speisenverkäufers und aßen gewürzte Teigfladen mit gehacktem Lammfleisch, mandelgespickte Feigen in Honigsud und Nussbrot, das mit Schafskäse überbacken und in Öl getunkt war. Dazu tranken sie Saft und Wasser.
Anfang November Anno Domini 1324;
am Stadttor von Jerusalem
Der Rundblick über die hügelige Stadt ließ Elazar erschauern. Im bernsteinfarbenen Licht des späten Nachmittags lag Jerusalem vor ihm: groß, glänzend und verheißungsvoll. Noch ein paar tausend Schritte, noch eine Nacht, dachte er, dann würde er endlich durch die Gassen der Heiligen Stadt schlendern können.
Tausend denkwürdige Erlebnisse und ein Weg von beachtlicher Länge lagen hinter ihm. Er wusste nicht, wie viele Meilen er seit dem verheerenden Massaker von Überlingen gewandert war oder auf Booten und Schiffen zurückgelegt hatte. Nach Süden, durch das riesige Gebirge, durch Schnee, Sturm und Eis, in die Wärme, die lange Rhone-Fahrt, die Küste, dann endlich das
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