Der Kaiser des Abendlandes
trat der junge Jude aus der Dunkelheit hervor. Schweigend musterte er zuerst Henri, dann Uthman, der ihm ein vertrauenerweckendes Lächeln schenkte, und schließlich Sean und Suleiman.
»Gehen wir«, sagte Henri ruhig. »Wir haben hier nichts mehr verloren.«
»Wer seid Ihr? Wie habt Ihr mich freibekommen? Was tut Ihr hier in Jerusalem, edler Ritter?« Elazars Stimme zitterte.
»Das ist eine lange Geschichte«, erklärte Uthman. »Wir gehen jetzt zunächst zu meinem Haus. Dort ist ein kleines Zimmer für dich bereit, und dort wirst du auch Joshua treffen, den gelehrten Juden, der dir vor vielen Tagen die Botschaft geschrieben hat, die Suleiman dir ins Gefängnis brachte. Jede deiner Fragen wird beantwortet – aber hab noch etwas Geduld.«
»Ich war so lange in diesem Haus gefangen. Da kommt es auf eine Stunde mehr oder weniger nicht an«, sagte Elazar heiser, hustete und versuchte zu lachen. Suleiman hörte, dass er die arabische Sprache passabel beherrschte; überdies hatte er eine angenehme Stimme.
Ohne viel zu reden und von Suleiman geführt, gingen die Gefährten durch die nächtliche Stadt. Niemand hielt sie auf, aber Henri war sicher, dass viele Augenpaare sie beobachteten.
Mit dumpfem Klirren rastete der letzte Riegel der Eingangstür ein. Aus Maras Küche zog der Geruch von frischem Brot und heißem Sud durchs ganze Haus. Sean zeigte Elazar das Zimmer, das für ihn vorbereitet worden war. Dann deutete er auf die Treppe.
»Nimm dir so viel Zeit, wie du brauchst«, sagte er. »Wir machen es uns unterdessen auf dem Dach am langen Tisch gemütlich und warten auf dich. Wenn du so weit bist, musst du uns berichten, woher du kommst und warum du hier bist.«
»Sag mir zuerst, wer ihr seid.«
»Drei gestandene Männer und zwei junge Kämpfer. Wir sind Juden, Christen und Muslime. Zusammen mit dir wären wir zu sechst.«
»Wofür oder wogegen kämpfen diese gestandenen und jungen Krieger?«, fragte Elazar.
»Für Freundschaft zwischen den Religionen und gegen Schurken jeder Art«, sagte Suleiman und stellte ein Öllämpchen auf ein Wandbrett in der Nähe von Elazars Lager.
Elazar nickte, obschon er noch immer nicht ganz zu begreifen schien, was diese zugegebenermaßen äußerst liebenswürdigen, aber dennoch wildfremden Menschen von ihm wollten. Er zog ein doppelt handgroßes Buch, das in schwarzes Leder eingebunden war, aus seinem Wams und legte es auf das Kissen. »Ich muss mich erst daran gewöhnen, dass ich frei bin.«
»Wie ein Vogel in der Luft«, bekräftigte Sean, nickte ihm zu und stieg die Stufen zur Dachterrasse hinauf.
Die Gefährten hatten die Waffen abgelegt und trugen leichte Kleidung. Mara hatte ihr frisch gebackenes Brot und zwei Krüge voll Sud und Würzwein gebracht.
Uthman füllte bedächtig die Becher und sagte zu Joshua: »Nun hast du einen jungen Pilger, mit dem du über alles reden kannst, was in deinen Büchern steht.«
»Denkt euch, er hat sogar ein eigenes Buch mitgebracht«, warf Sean ein und nahm sich einen Becher. »Ein ziemlich großes, dickes Buch.«
»Also kann er schreiben und lesen«, brummte Henri und grinste. »Warten wir darauf, was er uns erzählt.«
Nicht viel später erschien Elazar bereits auf dem Dach. Am Ende der Treppe blieb er zunächst stehen und sah nacheinander in die Gesichter der Gefährten. Dann holte er tief Luft und sagte: »Ich bin Elazar ben Aaron, geboren in Frankreich und aufgewachsen in Deutschland, in Überlingen am Bodensee. Nennt ihr mir auch eure Namen, damit ich weiß, wie ich euch anreden soll.«
Henri stand auf, ging auf Elazar zu, führte ihn an den Tisch und stellte mit ruhiger Stimme die Gefährten vor. Er fing mit Joshua an, der Elazar durch die dicken Gläser seiner Brille musterte und ihm ein gütiges Lächeln schenkte.
12
Die Nachfolger des Tempelritters
Es dauerte lange, bis Elazar die Schilderung seiner langen Wanderung und der Seefahrt beendet hatte. Von Überlingen bis Jerusalem, zum Grabmal des Simon und dann in Abu Lahabs Gefängnis. Henri und Sean hatten nur wenige Fragen gestellt, und jeder war beeindruckt von der Willensstärke und den großen Leistungen des jungen Mannes.
Nachdem er seinen Bericht beendet hatte, blickte Elazar plötzlich leicht verdutzt in die Runde und sagte, als wäre es ihm eben erst aufgefallen: »Zwei Juden, zwei Muslime und zwei Christen. Drei erfahrene Männer und drei junge. Ich fühle mich euch auf eine seltsame Weise zugehörig.« Er zuckte mit den Schultern;
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