Der Kaiser von China
einmal bestätigt zu bekommen, dass meine Tage unterm Schreibtisch ihren Sinn erfüllten, aber nun sollte Franziska wieder gehen, was gab es da denn noch so lange zu betrachten, sie sollte nun davon überzeugt sein, dass ich tatsächlich nicht da war.
Und gerade, als sich der erste Schritt vom Fenster wegbewegte, klingelte das Telefon. »Ich bin es«, sagte die Frau aus dem Krankenhaus, ohne ihren Namen zu nennen. Es war schon nach achtzehn Uhr, entweder arbeitete sie also heute doch noch länger, oder, und das hätte mich auch nicht überrascht, sie rief mich von zu Hause aus an. »Wo bleiben Sie denn?«, fragte sie, und bemühte sich nun nicht mehr um Freundlichkeit. Es sei wirklich dringend, sagte sie, und dass ich auch in der Nacht noch vorbeikommen könne. Dann hörte man ein saugendes Geräusch, als ob sie etwas durch einen Strohhalm trinken würde. »Ich hoffe, ich kann mich auf Sie verlassen«, sagte sie, dann legte sie auf, und von draußen hörte ich Franziska leise schnauben, und endlich entfernten sich ihre Schritte, und ich atmete laut aus und ärgerte mich maßlos.
Ich ärgerte mich über die Frau aus dem Krankenhaus, die es anscheinend nicht schaffte, eine Leiche ohne fremde Hilfe zu identifizieren, die sich anscheinend auch gar keine Sorgen um mich machte, obwohl ich schon vor zehn Stunden hatte losfahren wollen. Aber ich konnte nicht losfahren, bevor ich nicht wusste, wie ich meinen Großvater vom Westerwald glaubhaft nach China bringen könnte, oder von China glaubhaft in den Westerwald, und ich ärgerte mich über seine Rücksichtslosigkeit, so unglaubwürdig zu sterben, ich ärgerte mich über seine Rücksichtslosigkeit, überhaupt zu sterben, Sterben passte doch gar nicht zu ihm, und ich ärgerte mich über meine Geschwister, die offenbar nichts besseres zu tun hatten, als ständig aus dem Fenster zu schauen, die stundenlang im Haus herumlungerten, sodass ich mich nicht frei bewegen konnte, ich ärgerte mich über China, weil es einfach viel zu weit entfernt lag, und ich ärgerte mich über den Westerwald, weil er nicht weit entfernt genug lag, und am meisten ärgerte ich mich über Franziska, die dauernd hier anrief, die sogar einfach vorbeikam, obwohl ich ihr doch gesagt hatte, dass ich nach China fahren würde, sie vertraute mir anscheinend nicht, und wie sollte ich eine Frau heiraten, die mir nicht vertraute, und ich hatte ihr doch auch gesagt, dass ich mich nach meiner Rückkehr sofort melden würde, und nun würde sich die Rückkehr halt etwas verzögern, was war denn daran so schlimm, schließlich war unser Termin auf dem Standesamt erst morgen Nachmittag, da blieb doch noch etwas Zeit.
Mit keiner meiner Großmütter hatten wir je Weihnachten gefeiert. Sie kamen stets im Frühling und gingen spätestens im Herbst, Ende Oktober, Anfang November, hin und wieder blieb eine bis zum ersten Advent, das waren Ausnahmen. Manche verabschiedeten sich noch von uns, manche stürmten wortlos hinaus, viele riefen noch wochenlang an, und wir mussten Großvater dann immer verleugnen. »Sag ihr einfach, ich sei tot«, flüsterte er aus sicherer Entfernung.
Und deshalb umfasste mich auch im vergangenen Herbst mit Franziska eine Abschiedsstimmung, ich zählte die Wochen, die ihr noch blieben, doch dann kam der Dezember, und sie war immer noch da, es kam Weihnachten, es kam Neujahr, und meine Geschwister und ich blickten uns stets überrascht an, wenn Franziska sich an den Frühstückstisch setzte und »Guten Morgen« sagte, als wäre das ganz selbstverständlich. Im Laufe des Frühjahrs wurden diese Blicke weniger, wir stellten uns auf Franziska ein. Vielleicht komme mein Großvater nun endlich einmal zur Ruhe, vermuteten wir. Vielleicht habe er genug von allen Ausschweifungen, vielleicht habe er sich nun endlich alle Hörner abgestoßen und sei bereit für eine verantwortungsvolle Beziehung, wir steigerten uns richtig hinein in diese Vermutungen, es wurde von Hochzeiten geredet, es wurde von Familienurlauben geredet, meine ältere Schwester redete sogar von einem möglichen Geschwisterchen, das dann ja eigentlich ein Tantchen oder Onkelehen wäre, und dann ging es auf einmal doch wieder los. Immer öfter hörte man nachts Franziskas Auto wieder wegfahren, immer öfter räumten wir nach dem Abendessen ihren unbenutzten Teller zurück in den Schrank, immer öfter saß mein Großvater regungslos im Sessel, nur sein Kiefer bewegte sich langsam hin und her, und all das kannte ich schon.
Ich kannte auch die
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