Der Kaiser von China
erste von wie vielen?«, hatte ich gefragt und keine Antwort erhalten.) Sowohl bei der Hochzeit als auch bei der Scheidung war sie noch ein Teenager, und das ansonsten so hilflos beschönigende »Wir haben uns auseinandergelebt «, mit dem sie die Trennung begründete, klang bei ihr ausnahmsweise einleuchtend, weil es ab einer gewissen Geschwindigkeit wahrscheinlich belanglos ist, ob man sich in dieselbe Richtung bewegt oder in zwei verschiedene, der Abstand wächst so oder so.
Nicht ein einziges Mal, so erzählte mir Franziska, nicht mal am Ende, als es eine bequem abschließende Erklärung gewesen wäre, habe mein Großvater behauptet, dass er zu alt für sie sei. Nur an jenen einen Abend erinnere sie sich, noch recht zu Anfang ihrer gemeinsamen Zeit, da habe mein Großvater sie lange angeschaut und gesagt: »Hätten wir uns doch dreißig Jahre früher getroffen.« Dass sie damals vier gewesen sei, habe Franziska eingewendet, und mein Großvater, so erzählte sie, habe gesagt: »Dann hätte ich halt dreißig Jahre gewartet.«
Zwischen Peking und Xi ' an, den 18. Mai
Meine Lieben,
ich sitze im Speisewagen des Nachtzugs nach Xi ' an. Mit viel Glück haben wir noch Karten für die harten Schlafplätze bekommen, allerdings schlafen Großvater und ich in getrennten Abteilen. Ich habe ihn vorhin besucht, er scheint sich prächtig mit einer jungen Chinesin zu verstehen, wenn ich recht sah, las er ihr gerade aus der Hand, sie kicherte dabei. Er gab mir zu verstehen, dass ich stören würde, also bin ich hierher gekommen, um noch einen Teller Nudeln zu essen. In chinesischen Speisewagen muss man eine Nummer ziehen, und erst wenn die in der Anzeige über der Essensausgabe erscheint, darf man seine Bestellung aufgeben. Ich habe die Nummer 489, und wir sind erst bei 102, obwohl außer mir nur noch sechs andere Gäste im Restaurant sitzen. Das macht nichts, ich habe Zeit. Elfeinhalb Stunden dauert die Fahrt nach Xi ' an, mein Abteil ist heiß und stickig, es wird wohl auch geschnarcht werden. Den Tee aber bringt ein lächelnder Kellner schnell und ohne Aufforderung. Jeder Schluck tut gut, denn auch der heutige Tag war überaus anstrengend.
Großvater hatte sich geweigert, noch mehr von Peking anzusehen, also buchte ich über das Hotel einen Ausflug nach Badaling , um die Große Mauer zu besichtigen. Es regnete noch immer in Strömen, und nur mit großer Überzeugungskraft ließ sich Großvater dazu bewegen, den Reisebus überhaupt zu verlassen. Übellaunig stand er unter dem vom Busfahrer geliehenen Regenschirm und starrte auf die Touristen in ihren bunten Regenjacken, auf die mit Planen bedeckten Souvenirstände, auf die schaukelnden Seilbahnen, die verschwommenen Hügel. »Ein majestätischer Anblick«, sagte ich, weil ich Großvaters Desinteresse nicht hinnehmen wollte, weil ich ihm auf keinen Fall recht geben wollte, dabei war es tatsächlich ernüchternd. Ein Bauwerk, von dem man jahrzehntelang gedacht hatte, es sei vom Mond aus zu sehen, hatte auch ich mir beeindruckender vorgestellt, aber das durfte ich mir nicht anmerken lassen, ich lief auf und ab, fotografierte wahllos um mich, ich kaufte viel zu viele Postkarten und schaute mir sogar geduldig den epischen Informationsfilm an, in dem ganze Horden schmutziger Mandschu-Krieger-Darsteller eine Handvoll frisch gepuderter chinesischer Soldaten-Darsteller niedermetzeln. Unter anderem erfuhr man auch, dass die Feuer auf den Wachtürmen mit Wolfskot unterhalten wurden. »Hast du das gewusst?«, fragte ich Großvater, um ihm endlich einmal ein Wort zu entlocken. »Ja«, sagte er.
Auf der Rückfahrt machte der Bus noch einen Abstecher zu einer Privatklinik, angeblich ein besonderer Service des Ausflugsunternehmens, kostenlos konnten wir uns dort von »Spezialisten der jahrtausendealten chinesischen Heilkunde« untersuchen lassen. Ich vermutete, Großvater habe nun endgültig genug, aber er wurde, im Gegenteil, auf einmal ganz aufmerksam. »Wenn die Chinesen eines können, dann lange leben«, erklärte er mir.
Die Privatklinik war ein flacher Neubau inmitten eines Industriegebiets. Ein halbes Dutzend Ärzte oder Ärzte-Darsteller wartete schon winkend vor der Tür, wir mussten uns in Reihen aufstellen, um dann nach und nach in erstaunlicher Geschwindigkeit von den jetzt nicht mehr winkenden, sondern abhörenden, klopfenden und tastenden Ärzten untersucht zu werden. Großvater erduldete das lange Warten mit ehrfürchtigem Gezappel, sein Blick wanderte scheu in der kargen
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