Der Kaiser von China
Ausdrücke, die bis in mein Zimmer drangen, wenn sich Franziska und mein Großvater nachts stritten, ich kannte »stur«, ich kannte »Dickschädel«, ich kannte »Durchzug«, und natürlich war immer nur Franziska zu verstehen, von meinem Großvater stammte wahrscheinlich das vereinzelte Brummen, aber das konnte auch eine Wasserleitung sein.
Meist hörte man dann anschließend Franziska in ihren Stiefeln die Treppen hinabpoltern und im Wohnzimmer ihre eiligen Runden drehen. »Ich brauche Auslauf«, sagte sie einmal, nachdem sie zuvor so klar zu verstehen gewesen war, dass ich hinunterging, um nach ihr zu sehen. Erst viel später fiel mir auf, dass ich auch nach oben zu meinem Großvater hätte gehen können, und ich redete mir ein zu wissen, das er in solchen Situationen ohnehin keine Gesellschaft wünsche.
Ich blieb damals in der Mitte des Raumes stehen und folgte Franziska nur mit dem Kopf, wie sie mit ausladenden Schritten, die Hände in der Hüfte, in einem immer enger werdenden Kreis um mich herumlief. »Mein Großvater?«, fragte ich, als ob ich vom Streit nichts gehört hätte. »Nein«, sagte sie. »Der Schwachkopf da oben, der ihm ähnlich sieht.«
Nach ein paar Minuten drehte Franziska ihre Runden so eng um mich herum, dass ich mich, um sie nicht aus den Augen zu lassen, mitdrehen musste. Sie wurde immer schneller, fing an zu laufen, ich stieß mich nur noch mit den Zehenspitzen ab, das Wohnzimmer hinter ihr verschwamm, dann verschwamm auch Franziska, und als wir schließlich auf dem Boden lagen, der nach allen Seiten ausschlug, hätten wir lachen sollen. Wir lagen aber nur schwer atmend nebeneinander, den Blick auf die sich langsam wieder einpegelnde Decke gerichtet, dann standen wir auf, nickten uns kurz zu und gaben uns, noch leise schwankend, die Hand. »Geht es wieder?«, fragte ich. »Nein«, sagte Franziska.
Xi ' an, den 19. Mai
Meine Lieben,
ein ereignisreicher Tag war das heute, und ich kann es kaum erwarten, Euch alles zu berichten. Nun sitze ich hier im
» Wenyuan Dajiudian «, einem großen, aber dennoch liebenswürdigen Dreisternehotel im muslimischen Viertel, dessen Name, so erklärte uns der freundliche Concierge, so viel wie »Heimat der Intellektuellen« bedeute. Angeblich stamme das aus den 1950er Jahren, als in den Hinterzimmern noch regelmäßig illegale Heuschreckenkämpfe stattfanden, martialische Duelle seien das gewesen, bei denen zwar wenig Geld, aber jede Menge Ehre auf dem Spiel stand, und die sich gerade bei Künstlern und Akademikern großer Beliebtheit erfreuten. Um sich vor unerwünschten Gästen zu schützen, wurden die Kämpfe daher auch immer als »Dichterlesung« angekündigt. Es ist gleich Mitternacht, und der heutige Morgen scheint mir schon so unvorstellbar lang zurückzuliegen.
Er begann gleich mit einem Streit. Xi ' an, so habe ich irgendwo gelesen, könne man entweder lieben oder hassen, und schon wenige Minuten nach unserer Ankunft, noch im Taxi vom Bahnhof, waren die Rollen zwischen Großvater und mir verteilt: Er übernahm das Hassen, sodass mir nicht viel anderes übrig blieb, als zumindest vorzugeben, diese zweite Station unserer Reise zu lieben. Was Großvater zu modern fand, fand ich notgedrungen zeitgemäß, was Großvater für überfüllt hielt, bezeichnete ich als lebhaft, er sagte: staubig, ich sagte: erdig, er hielt es für affig, dass eine Stadt mit Apostroph geschrieben werde, ich forderte viel mehr Apostrophe in Städtenamen, mehr Semikolons, mehr Anführungsstriche, mehr Ausrufezeichen, und als Großvater dann, nachdem er eine Weile missmutig aus dem Fenster geschaut hatte, sagte: »Ein Glockenturm. Huch, wie originell«, schrie ich ihn an. Warum er denn unbedingt nach China gewollt habe, warum er von nichts anderem mehr habe sprechen können, China hier, China dort, um nun, wo er seinen Willen bekommen habe, wo wir tatsächlich in China seien, gar kein Interesse an diesem Land zeige, nicht die Spur einer Begeisterung aufbringe, auf all meine Vorschläge immer nur mit einem »Ist das sehr weit?« reagiere, mit einem »Da gibt es bestimmt keine Toilette« oder mit einem »Das ist doch nur was für Buddhisten«. Was er sich denn bitte von China versprochen habe, fragte ich ihn, und ich fragte es sehr laut, denn er blickte zu Boden, sagte erst nichts, zuckte dann mit den Schultern und meinte leise, so furchtbar dringend, wie ich behaupte, habe er ja gar nicht nach China gewollt, das sei nur ein vager Vorschlag gewesen, und dass ich sofort darauf
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