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Der Kaiser von China

Der Kaiser von China

Titel: Der Kaiser von China Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tilman Rammstedt
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ausdruckslos studiert und dann beiseitegelegt wie all die anderen Geschenke, das gerahmte Familienfoto, den Cognac, den Marilyn-Monroe-Bildband. »Keith unternimmt mit dir eine Reise«, erklärte mein zweitältester Bruder, wieder etwas zu laut und etwas zu fröhlich, wie er in letzter Zeit immer mit unserem Großvater sprach. »Wir wären ja gern alle mitgefahren, aber du weißt ja«, und mein Großvater wusste natürlich nicht, wie sollte er auch, er fuhr sich unablässig mit der Zunge die Zähne entlang, seitdem er die Teilprothese hatte, machte er das ständig, und schaute meinen zweitältesten Bruder dabei verständnislos an. »Eine Reise wohin?«, fragte er schließlich. »Wohin du schon immer mal wolltest«, sagte meine jüngere Schwester, und sie hätte es besser nicht gesagt. Denn am nächsten Morgen, noch im Schlafanzug, sagte mein Großvater »China«, und am Mittag sagte er es noch immer, und am Abend schon wieder, und als ich ihm Prospekte zeigte, Prag, Masuren, Korfu, schaute er gar nicht hin. »China«, sagte er, »Geschenkt ist geschenkt«, sagte er und dass er darüber nicht diskutieren wolle, und dann wurde ein Arm verschränkt und das Sterben ins Spiel gebracht.
    »Und selbst, wenn du sterben würdest«, hatte ich gesagt, »wäre das ein Grund mehr, nicht nach China zu fahren. China ist weit, China ist anstrengend, in China versteht dich kein Arzt«, und mein Großvater hatte gelächelt, sein trauriges Lächeln, das ihm keiner so schnell nachmachte, und er sagte leise, dass er es in diesem Fall vorziehen würde, gar nicht wegzufahren, er wünsche mir viel Spaß auf Korfu, und dann vertiefte er sich in seinen Marilyn-Monroe-Band, und ich blieb länger vor ihm stehen, als ich wollte und sah ihm zu, wie er den Zeigefinger vor dem unglaubwürdig häufigen Umblättern immer wieder zur Zunge führte. »Wie du willst«, sagte ich, um dann schleunigst den Raum zu verlassen, das Haus zu verlassen und mich, so weit es eben ging, zu entfernen.
    Es war jetzt früher Nachmittag, das behauptete zumindest der Radiowecker, den ich unter den Schreibtisch gestellt hatte und aus dem ich manchmal, das Ohr an den Lautsprecher gedrückt, leise Musik hörte. Ich selbst hatte das Gefühl für die Tageszeiten längst verloren. Auch tagsüber schlief ich, so viel ich konnte, und war enttäuscht, wenn ich dann feststellte, dass es nur eine halbe Stunde gewesen war.
    Ich würde unverzüglich losfahren, hatte ich der Frau am Telefon versprochen, das war vor über fünf Stunden gewesen, und auf ein paar mehr kam es nun wohl auch nicht mehr an.
    Ich begann, ein paar Sachen zusammenzupacken, viel würde ich nicht brauchen, ich hatte nicht vor, länger zu bleiben. Ein kurzer Blick, das würde reichen, ich nicke, und dann wird mein Großvater wieder zurückgeschoben in die unförmige Kühlwand, das kannte ich alles aus Filmen. Es wird ein großer, kahler Saal sein, das glatte Licht der Neonröhren, die Pathologin trägt natürlich einen weißen Kittel und schaut diskret zu Boden. »Es tut mir sehr leid«, sagt sie dann und versucht nicht einmal, das aufrichtig klingen zu lassen.
    Und vielleicht wäre es sogar besser, noch eine Nacht abzuwarten, alles ein wenig sacken zu lassen, vielleicht wäre es heute noch zu früh, vielleicht würde ich heute meinen Großvater gar nicht erkennen. Vielleicht hatte ich auch nur Angst, dass er selbst jetzt wieder mit China anfangen würde.
    Natürlich war er noch nie in China gewesen, fast nirgendwo war er schon gewesen, wie sich herausstellte, er hatte den europäischen Kontinent niemals verlassen, Deutschland niemals verlassen, war nur einmal der holländischen Grenze recht nahe gekommen und einmal, wohlwollend betrachtet, der dänischen. Er hatte noch nie in einer ausländischen Währung bezahlt, nie jemanden fragen müssen, ob er vielleicht Deutsch verstehe, Fremdsprachen beherrschte er, bis auf wenige, nur ihm verständliche Worte Englisch, keine.
    »Und warum ausgerechnet gleich China?«, hatte ich ihn am Tag nach seinem Geburtstag am Telefon gefragt. Seit acht Uhr hatte er mich fast pausenlos angerufen, dass ich ausreichend Deodorant einpacken müsse, so was gebe es in China nämlich nicht, dass ich festes Schuhwerk brauche, ob ich gegen Malaria geimpft sei. »Mein Gott, du warst doch noch nicht einmal in Österreich«, rief ich, und mein Großvater sagte nichts, sagte lange nichts, so lange, bis ich fragte: »Bist du noch da?«
    »Ja«, sagte er. »Ich will nicht nach Österreich«, sagte

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