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Der Kalligraph Des Bischofs.

Der Kalligraph Des Bischofs.

Titel: Der Kalligraph Des Bischofs. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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einem Fesselseil herbeigezogen, spürte er den Zwang, sich ihr zu nähern. Entlang der steinernen Gebäudewände schlich
     er sich auf die andere Seite des Hofes und |95| immer weiter an die Blinde heran. Schließlich trennten sie nur noch wenige Schritte, und Germunt dankte seiner Übung, die
     es ihm ermöglichte, geräuschlos zu laufen. Die Blinde zog kleine Pflanzen zu sich an den Zaun und roch an ihnen. Plötzlich
     beendete sie ihr Lied und drehte sich um. »Wer ist da?«
    Obwohl er wußte, daß sie blind war, fühlte sich Germunt, als sähe sie ihm direkt entgegen. Blut schoß ihm in die Wangen. Er
     suchte hastig nach einer Fluchtmöglichkeit und erblickte einen kleinen Kirchturm. Mit raschem Schritt lief er über den Hof
     und schloß die Kirchentür hinter sich.
    Sie kann mich nicht gesehen haben. Sie kann nicht wissen, daß ich es war.
Er spürte kalten Schweiß auf der Stirn und an den Handrücken. Gut hatte sie ausgesehen. Der silberne Widerschein des Mondlichts
     auf ihrem Haar, der goldene Glanz der Haut, die feinen Brauen, der hübsche Mund. Und so schmale, sanfte Hände, die die Pflanzen
     zu sich heranbogen!
Wie konnte sie mir so in die Augen schauen, wo sie doch blind ist?
    Würziger Weihrauchgeruch stieg ihm in die Nase. Germunt fühlte sich plötzlich klein wie ein Kind. Mit einer langsamen Drehung
     spähte er in den Raum, den großen, von stillem Kerzenschein erleuchteten Kirchensaal. Vier dicke Kerzen brannten auf dem Hauptaltar,
     der steinern und mächtig an der Frontseite stand. Auf den beiden Seitenaltären brannte je eine kleinere. War dieser Thron
     dort der Platz des Bischofs? Ein Sitz aus Stein, mit Armlehnen, in die Löwenköpfe gemeißelt waren.
    Ringsum von den Wänden schauten Heilige herab, beobachteten ihn, den Eindringling. Ein bronzenes Weihrauchfaß hing an Ketten,
     und plötzlich fürchtete sich Germunt, ein Geist könnte daraus emporsteigen. Da, eine Marienstatue. Heruntergebrannte Kerzenstummel
     standen um sie herum wie winzige Kinder. Und dort Petrus mit dem goldenen Schlüssel in der Hand.
Ein goldener Schlüssel …
    |96| Einige Büsten waren mit Edelsteinen geschmückt, in Silber gefaßten Edelsteinen. War das nicht der Besitz des Bischofs? Und
     schuldete ihm der Bischof nicht etwas?
Die Schatzkammer …
    »Verzeiht«, sagte Germunt halblaut und blickte zu den Engeln hinauf, die ihre Flügel drohend spannten.
Ich werde doch kein Kirchengut stehlen. Auf keinen Fall. Alles, aber nicht Kirchengut.
    Der Schlüssel in Petrus’ Händen schien vollständig aus Gold zu bestehen. Zögerlich näherte sich ihm Germunt, um ihn zu berühren.
    Als er hinter sich ein Geräusch an der Tür hörte, zog er hastig die Hand zurück.
    »Ein Morgengebet?«
    Germunt drehte sich herum und fühlte sich, als schlüge sein Herz zwischen den Füßen auf dem Boden auf. Er sah in das Gesicht
     des Mannes, der ihn bei seinem letzten Einbruch ertappt hatte.

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    |97| 8. Kapitel
    »Denkt nicht, daß ich jedes Mal schweigend zusehe, wenn jemand sich Dinge aneignet, die ihm nicht gehören.«
    »Ich habe nur –«
    »Geschaut. Ich weiß. Ihr schaut auch gern in fremder Leute Fenster, wie ich mich erinnere.«
    Die beiden gruben ihre Blicke ineinander.
    Daß Biterolf Furcht in den braungelben Augen seines Gegenübers entdeckte, machte ihm Mut. »Hört zu«, begann er von neuem,
     »ich würde Euch gern nahelegen, den Hof zu verlassen. Obwohl ich über unsere erste Begegnung Schweigen bewahrt habe, ist Euch
     kaum jemand wohlgesonnen hier, im Gegenteil. Man mißtraut Euch.«
    »Ich hatte sowieso vor, heute zu verschwinden.«
    »Nicht so schnell. Das war nur meine Meinung. Odo steht auf Eurer Seite, und Claudius, unser Bischof, hat mich angewiesen,
     Euch nach Eurer Genesung in den
septem artes liberales
, den sieben freien Künsten, zu unterrichten.«
    »Und wenn ich nicht will?«
    »Gut. Dann hätten wir das geklärt.«
    Es entstand eine merkwürdige Stille. Biterolf konnte sich nicht entschließen, die Kirche zu verlassen, und auch der junge
     Mann stand auf seinem Platz, ohne sich zu rühren.
    »Geht nur, ich werde nichts stehlen.«
    »Wenn ich die Schriften unseres Bischofs recht verstanden habe, hätte er nichts dagegen, wenn die eine oder andere Figur aus
     der Kirche verschwinden würde. Es wäre aber ein großer Frevel vor Gott, sich hier zu bereichern.«
    |98| »Das weiß ich selbst.«
    »Also hütet Euch. Die Hölle brennt heiß für einen Kirchendieb.« Biterolf wandte sich zur Tür.

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