Der kalte Hauch der Angst
ein Mann. Sophie spürt, dass er an diesem Sieg festhalten will, er ist schon ganz rot im Gesicht. Also zieht sie den Umschlag heraus, in dem nur groÃe Scheine stecken; ihre Zigaretten fallen herunter, sie hebt alles auf. Nun haben sich so viele Leute um sie herum versammelt, sie atmet tief durch, zieht die Nase hoch, wischt wieder mit dem Handrücken die Tränen weg, nimmt einen Fünfziger und drückt ihn dem Kellner in die Hand. Sie stehen mitten im Bahnhof in einem Kreis aus Gaffern und Reisenden, die interessiert stehen geblieben sind. Der Kellner fasst in seine Geldtasche am Hosenbund, um ihr das Wechselgeld zu geben, und an der Langsamkeit seiner Bewegungen merkt sie, dass er den errungenen Sieg nun voll auskostet. Er lässt sich unendlich viel Zeit, blickt sich nicht um, konzentriert sich, als würde es die vielen Leute gar nicht geben und er seine natürlichsteRolle spielen, die Rolle gelassener Strenge. Sophie merkt, wie angespannt ihre Nerven sind. Ihr kribbelt es in den Händen. Der ganze Bahnhof scheint sich um sie beide herum versammelt zu haben. Der Kellner zählt das Geld genauestens ab, von zwei fünfzig auf fünfzig Euro, und legt ihr jeden Schein, jede Münze in die geöffnete, zitternde Hand. Sophie sieht nur seinen weiÃlichen Schädel, die SchweiÃtropfen an den Wurzeln seiner schütteren Haare. Brechreiz.
Sophie nimmt ihr Geld, dreht sich um und geht völlig orientierungslos durch die Menge der Schaulustigen.
Sie geht weiter. Sie meint zu wanken, aber nein, sie geht aufrecht, sie ist nur so müde.
Eine Stimme: »Brauchen Sie Hilfe?«
Heiser, gedämpft.
Sie dreht sich um. Meine Güte, was für ein deprimierender Anblick! Der Säufer vor ihr, der Obdachlose, der Penner, steht für das ganze Elend der Welt.
»Nein, es geht schon, danke â¦Â«, stöÃt sie hervor.
Dann macht sie sich wieder auf den Weg.
»Muss dir nicht peinlich sein, wir sitzen doch alle in der gleichen Scheiâ¦Â«
»Hau ab, und nerv nicht!«
Der Mann weicht sofort zurück und grummelt etwas, das sie lieber überhört. Vielleicht irrst du dich, Sophie. Vielleicht hat er ja recht, vielleicht bist du trotz deiner GroÃspurigkeit eine von denen. Eine Pennerin.
Was war denn in dem Koffer? Klamotten und irgendwelcher Kram. Das Wichtigste ist das Geld.
Hektisch wühlt sie in ihren Taschen und stöÃt einen Seufzer der Erleichterung aus: Ihre Papiere sind noch da, das Geld auch. Das Wesentliche hat sie noch. Also noch einmal nachdenken. Sie verlässt den Bahnhof im hellen Sonnenschein.Vor ihr eine ganze Reihe Cafés, Gaststätten, überall Reisende, Taxis, Autos, Busse. Und genau dort drüben vor der kleinen Betonmauer steht die Schlange vor dem Taxistand. Ein paar Leute sitzen, manche lesen; ein Mann telefoniert mit angestrengter Miene, seinen Terminkalender auf dem SchoÃ. Sie geht hin, setzt sich auch, holt ihre Zigarettenschachtel heraus und raucht mit geschlossenen Augen. Sich konzentrieren. Plötzlich fällt ihr das Handy ein. Sie werden es abhören. Sie werden prüfen, ob sie versucht hat bei den Gervais anzurufen. Sie öffnet das Gerät, nimmt hastig die SIM-Karte heraus und wirft sie in einen Gully. Auch das Telefon muss sie wegwerfen.
Ganz automatisch ist sie zur Gare de Lyon gefahren. Warum? Wohin wollte sie reisen? Rätselhaft â¦Â Sie überlegt. Und da erinnert sie sich: Marseille; dort ist sie mit Vincent gewesen, das ist so lange her. Lachend waren sie in einem heruntergekommenen Hotel in der Nähe des Vieux-Port abgestiegen, weil sie nichts anderes gefunden und sie so schreckliche Lust gehabt hatten, unter die Decken zu schlüpfen. Als der Mann an der Rezeption nach ihrem Namen fragte, antwortete Vincent »Stefan Zweig«, denn der war damals ihr Lieblingsschriftsteller. Sie mussten den Namen buchstabieren. Der Mann fragte, ob sie aus Polen kämen. Vincent erwiderte: »Ãsterreich. Gebürtig aus â¦Â« Sie hatten eine Nacht unter falschem Namen verbracht, inkognito, deshalb â¦Â Der Gedanke schockiert sie: Sie wollte also irgendwohin fahren, wo sie schon einmal war. Nach Marseille oder anderswohin, das ist nicht so wichtig, Hauptsache an einen bekannten, wenn auch nur vage bekannten Ort; das gibt ihr Sicherheit, und genau damit rechnet man bei ihr. Man wird sie an einem Ort suchen, den sie höchstwahrscheinlich ansteuern wird, und genau das darf sie
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