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Der kalte Hauch der Angst

Der kalte Hauch der Angst

Titel: Der kalte Hauch der Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Lemaitre
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nicht tun. Von nun an musst du alledeine Bezugspunkte vergessen, Sophie, das ist lebenswichtig. Du musst dir etwas ausdenken. Dinge tun, die du nie getan hast, an Orte fahren, wo man dich nicht vermutet. Plötzlich bekommt sie Panik bei dem Gedanken, dass sie nicht mehr zu ihrem Vater gehen kann. Fast ein halbes Jahr lang hat sie ihn nicht besucht, und nun kann sie unmöglich zu ihm fahren. Sein Haus wird bestimmt überwacht, sein Telefon abgehört. Sie sieht die unveränderliche Gestalt des alten Mannes vor sich: langgliedrig, massiv, wie aus einer Eiche gehauen, genauso alt, genauso stark. Sophie hatte Vincent nach dem Vorbild des Vaters gewählt; groß, ruhig, gelassen. Das wird ihr fehlen. Als nach Vincents Tod alles zusammengebrochen war, als ihr Leben in Trümmern lag, war ihr Vater der letzte aufrechte Halt gewesen. Nun wird sie ihn nicht mehr sehen, nicht mehr sprechen können. Sie ist ganz allein auf der Welt, als sei auch er tot. Sie kann sich nicht vorstellen, wie eine Welt aussieht, in der ihr Vater zwar irgendwo lebt, sie ihn aber nicht mehr sprechen, nicht mehr hören kann. Als sei auch sie selbst tot.
    Von diesen Zukunftsaussichten wird ihr schwindelig – als würde sie ohne Hoffnung auf Wiederkehr in eine andere Welt eintreten, eine feindliche Welt, in der ihr alles fremd ist, alles gefährlich ist, in der sie alle Spontaneität ablegen und ständig etwas Neues machen muss. Von nun an wird sie nirgends mehr in Sicherheit sein, es wird keinen Ort geben, an dem sie ihren wahren Namen angeben kann. Sophie ist kein Mensch mehr, sie ist eine Flüchtige, eine, die vor Angst gestorben ist und nun das Leben eines Tieres lebt, eine, der es nur noch ums Überleben geht, das genaue Gegenteil des Lebens an sich.
    Erschöpfung überkommt sie: Ist es all das wirklich wert?Was ist ihr Leben denn jetzt? Immer weiterziehen, nie an einem Ort bleiben … All das ist zum Scheitern verurteilt, sie ist keine Kämpferin. Sie hat nicht das Zeug zur Flucht, ist nur eine Verbrecherin. Nie wird sie es erfahren. Man wird dich ganz leicht finden … Sie stößt einen langgezogenen Seufzer der Selbstaufgabe aus: sich stellen, zur Polizei gehen, die Wahrheit sagen; dass sie sich an nichts erinnert … dass all das ja eines Tages geschehen musste, dass sie einen solchen Groll, einen solchen Hass auf die Welt hegt … Besser, sie macht nun mit allem ein Ende. Sie will das Leben nicht, das sie erwartet. Aber wie war denn ihr bisheriges Leben? Schon seit Langem war es gar nichts mehr. Nun hat sie die Wahl zwischen zwei sinnlosen Existenzen … Sie ist so müde … Sie sagt sich: »Es muss aufhören.« Und zum ersten Mal erscheint ihr das als eine konkrete Lösung. »Ich werde mich stellen.« Sie ist nicht mal erstaunt, dass sie sich ausdrückt wie eine Mörderin. Kaum zwei Jahre hat es gedauert, bis sie verrückt, kaum eine Nacht, bis sie wieder eine Kriminelle geworden ist, kaum zwei Stunden, bis sie eine Verfolgte war mit all dem, was dies an Ängsten, Verdächten, Listen, Stress, an Versuchen, alles zu organisieren, vorherzusehen, mit sich bringt, und nun auch noch ihre Ausdrucksweise. Es ist das zweite Mal in ihrem Leben, dass sie an dem Punkt steht, an dem ein normales Leben innerhalb einer Sekunde in den Wahnsinn, in den Tod abrutschen kann. Es ist vorbei. Hier muss alles zu Ende sein. Jetzt durchströmt sie ein ganz wohliges Gefühl. Sogar das Grauen davor, eingesperrt zu werden, das sie in die Flucht getrieben hatte, vergeht. Die psychiatrische Klinik ist nun keine Hölle mehr, sondern eine sanfte Lösung. Sie drückt die Zigarette aus, zündet sich eine andere an. Nach dieser Zigarette bringe ich es hinter mich. Eine letzte Zigarette und dann, wie gesagt, gleich dann telefoniert sie, siewählt den Notruf. Welche Nummer war das noch mal? Das ist jetzt egal, sie wird sich schon verständlich machen, alles erklären können. Alles ist besser als diese Stunden, die sie gerade durchlebt. Alles, alles statt dieses Wahnsinns.
    Sie bläst den Rauch weit von sich weg, atmet lange aus, und genau in diesem Augenblick hört sie die Stimme der Frau.
    6
    Â»E S TUT MIR SO LEID … «
    Die graue Frau steht da, hält nervös ihre kleine Tasche in der Hand. Sie verzieht ihr Gesicht zu etwas, das bei ihr ein Lächeln sein muss. Sophie ist nicht einmal überrascht.
    Sie

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