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Der kalte Hauch der Angst

Der kalte Hauch der Angst

Titel: Der kalte Hauch der Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Lemaitre
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sehr kindliches Mittel ist, sich sicherer zu fühlen.
    In eine Toilette gehen, sich kämmen, sich wieder sammeln, die Banknoten richtig verstauen, ein Fahrtziel wählen, einen Plan fassen: Das muss sie jetzt tun. Und sich eine Zigarette anstecken. Sofort.
    Sie reißt das Papier der Zigarettenstange auf, drei Schachteln fallen zu Boden. Sie hebt sie auf, legt die Jacke und die Stange auf den Koffer, außer der Schachtel, die sie öffnet. Sie nimmt eine Zigarette heraus, zündet sie an. Eine Welle des Wohlbefindens breitet sich in ihrem Bauch aus. Die erste Glückssekunde nach einer Ewigkeit. Und dann steigt es ihr fast umgehend in den Kopf. Sie schließt die Augen, um wieder zu sich zu kommen, und einige Minuten danach geht es ihr schon besser. Zwei, drei Minuten rauchen sind wie ein wiedergefundener Frieden. Sie raucht mit geschlossenen Augen. Danach drückt sie die Kippe aus, packt die Stange in ihren Koffer und geht zu dem Café gegenüber den Bahnsteigen.
    Ãœber ihr das Restaurant Train bleu mit der großen Wendeltreppe, hinter den Glastüren diese übermäßig hohen Räume, all die weiß gedeckten Tische, der Lärm, das Silberbesteck, die manierierten Fresken an der Wand. Vincent hatte sie einmal hierher zum Abendessen ausgeführt, das ist so lange her. All das ist so fern.
    Auf der überdachten Terrasse hat sie einen freien Tisch entdeckt. Sie bestellt Kaffee, fragt nach der Toilette. Sie will ihren Koffer nicht hier stehen lassen. Aber ihn mit zur Toilette zu nehmen … Sie blickt sich um. Rechts sitzt eine Frau, links sitzt eine Frau. Dafür sind Frauen besser. Die Fraurechts dürfte ungefähr in ihrem Alter sein, sie raucht und blättert in einer Zeitschrift. Sophie entscheidet sich für die Frau links, sie ist älter, gesetzter, selbstsicherer; Sophie deutet auf ihren Koffer, aber ihr Gesicht sendet an sich schon so eine deutliche Botschaft aus, dass sie nicht sicher ist, ob sie sich verständlich machen konnte. Doch der Blick der Frau scheint zu sagen: »Gehen Sie nur, ich bin hier.« Ein angedeutetes Lächeln, das erste seit Jahrtausenden. Auch für das Lächeln sind Frauen besser. Sie rührt ihren Kaffee nicht an. Sie geht die Treppe hinunter, vermeidet es, sich im Spiegel anzusehen, geht direkt in eine Kabine, schließt die Tür, zieht Jeans und Slip herunter, setzt sich, stützt ihre Ellbogen auf die Knie und fängt an zu weinen.
    Ihr Gesicht im Spiegel, als sie aus der Kabine kommt. Verheerend. Verrückt, wie alt und verbraucht sie sich fühlt. Sie wäscht sich die Hände, benetzt sich die Stirn. Welch eine Müdigkeit … Also wieder hinaufgehen, Kaffee trinken, eine Zigarette rauchen und nachdenken. Sich nicht mehr verrückt machen, besonnen handeln, erst alles richtig bedenken. Leicht gesagt!
    Sie geht wieder die Treppe hinauf. Kommt auf die Terrasse, und da springt ihr die Katastrophe gleich ins Auge. Ihr Koffer ist weg, die Frau auch. »Scheiße!«, schreit sie und schlägt wütend mit der Faust auf den Tisch. Die Kaffeetasse kippt um, zerbricht, alle Blicke richten sich auf sie. Sie dreht sich zu der anderen Frau um, der Frau am Tisch rechts. Und augenblicklich begreift Sophie, fast durch ein Nichts, durch einen Blick, der sich verdunkelt, dass diese Frau alles gesehen hat, nicht eingeschritten ist, kein Wort gesagt hat, nichts getan hat, nichts.
    Â»Sie haben natürlich nichts gesehen!«
    Die Frau ist um die dreißig, grau von Kopf bis Fuß, mit einem traurigen Gesicht. Sophie wischt sich mit dem Ärmel die Tränen weg.
    Â»Du hast nichts gesehen, was, du Schlampe!«
    Und sie schlägt sie ins Gesicht. Schreie, der Kellner kommt herbeigeeilt, die Frau hält sich die Wange, fängt an wortlos zu weinen. Alle kommen angelaufen, was ist hier los?, und Sophie im Auge des Hurrikans, viele Leute, der Kellner packt Sophie an beiden Armen und schreit: »Sie beruhigen sich jetzt, oder ich rufe die Polizei!« Mit einer Drehung der Schulter reißt sie sich los und läuft weg, der Kellner brüllt, rennt ihr hinterher, die Menge folgt den beiden, zehn Meter, zwanzig Meter, sie weiß nicht mehr, wohin sie gehen soll, die Hand des Kellners berührt herrisch ihre Schulter.
    Â»Den Kaffee bezahlen Sie!«, blafft er.
    Sie dreht sich um. Der Kerl sieht sie gehetzt an. Ihre Blicke treffen sich in einem Krieg der Willen, die sich durchsetzen wollen. Er, er ist

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