Der kalte Hauch der Angst
telefonieren.«
»O nein!«
Sie hat zu schnell geantwortet. Ruhe, kühlen Kopf bewahren. Nimm dir Zeit. Sophie, sag nicht alles so schnell dahin â¦
»Sie erwarten mich eigentlich erst morgen â¦Â«
»Ach so«, sagt Véronique und drückt ihre Zigarette aus. »Haben Sie schon zu Mittag gegessen?«
Das ist das Letzte, woran sie denken konnte.
»Nein.«
Sie schaut auf die Wanduhr: 13 Uhr 40.
»Darf ich Sie dann zum Essen einladen? Als Entschuldigung â¦Â wegen des Koffers â¦Â Ich wohne gleich hier um die Ecke. Habe nicht viel im Haus, aber im Kühlschrank wird sich schon was Essbares finden.«
Du darfst nichts so machen wie früher, Sophie, denk dran! Du musst irgendwo hingehen, wo dich niemand vermutet.
»Ja, warum nicht?«, meint sie.
Die beiden lächeln sich an. Véronique bezahlt die Rechnung. Im Gehen kauft Sophie zwei Schachteln Zigaretten und folgt Véronique.
Boulevard Diderot. Ein Bürgerhaus. Sie gehen nebeneinander und machen weiter Smalltalk. Kaum vor Véroniques Haus angekommen, bereut Sophie es auch schon. Sie hätteNein sagen, hätte wegfahren müssen. Sie sollte schon weit weg sein von Paris, in einer Richtung, wo sie niemand vermutet. Aus Schwäche, aus Müdigkeit hat sie die Einladung angenommen. Nun folgt sie der Frau mechanisch, betritt das Haus, lässt sich führen wie eine zufällige Besucherin. Der Aufzug. Véronique drückt auf den Knopf der vierten Etage, das Ding ruckelt und zuckelt und quietscht und fährt dennoch hinauf, dann bleibt es abrupt stehen. Veronique lächelt.
»Nicht gerade komfortabel â¦Â«, entschuldigt sie sich und sucht in ihrer Tasche nach dem Schlüssel.
Nicht gerade komfortabel â aber alles, angefangen bei der Eingangshalle, stinkt nach wohlhabendem Bürgertum. Die Wohnung ist groÃ, richtig groÃ. Das Wohnzimmer besteht aus zwei Räumen und hat zwei Fenster. Rechts eine Sitzecke aus Kunstleder, links der Stutzflügel, hinten die Bibliothek â¦
»Kommen Sie doch bitte herein.«
Sophie betritt das Wohnzimmer, wie man ein Museum betritt. Augenblicklich erinnert sie die Einrichtung, nur in kleinerem MaÃstab, an die Wohnung in der Rue Molière, wo genau in diesem Moment â¦
Gleich sieht sie sich nach einer Uhr um; die vergoldete Kaminuhr auf dem Sims in der Ecke zeigt 13 Uhr 50.
Véronique ist sofort in die Küche geeilt, ist plötzlich ganz lebhaft, fast aufgedreht. Sophie hört ihre Stimme und antwortet zerstreut, während sie die Räume betrachtet. Wieder bleibt ihr Blick auf der kleinen Uhr hängen. Die Minuten vergehen nicht. Sie holt tief Luft. Nicht vergessen zu antworten, leise sagen: »Ja, natürlich â¦Â«, und versuchen, wieder zu sich zu kommen. Es ist ein wenig so, als würde sie nach einer unruhigen Nacht an einem unbekannten Orterwachen. Véronique hantiert in der Küche herum, redet schnell, öffnet Schränke, schaltet die Mikrowelle ein, schlägt die Kühlschranktür zu, deckt den Tisch. Sophie fragt: »Kann ich Ihnen helfen?«
»Nein, nein!«
Die perfekte kleine Gastgeberin. In wenigen Minuten stehen Salat und Wein auf dem Tisch, das Brot ist fast frisch (»Es ist von gestern.« â »Kein Problem â¦Â«), Véronique schneidet es geübt auf.
»Sie sind also Ãbersetzerin â¦Â«
Sophie sucht nach einem Gesprächsthema. Aber das muss sie nicht mehr. Nun hier bei sich zu Hause ist Véronique sehr gesprächig.
»Englisch und Russisch. Meine Mutter ist Russin. Das hilft!«
»Was übersetzen Sie? Romane?«
»Das würde ich gern, aber ich übersetze eher Gebrauchstexte â Korrespondenz, Broschüren, solche Dinge.«
Das Gespräch flieÃt leicht da hin und dort hin, man spricht über die Arbeit, die Familie. Sophie denkt sich Beziehungen aus, Kollegen, eine Familie, ein schönes, ganz neues Leben, und entfernt sich dabei möglichst weit von der Wirklichkeit.
»Wo wohnen Ihre Eltern noch mal?«, fragt Véronique.
»Chilly-Mazarin.«
Das ist ihr plötzlich eingefallen, sie weià nicht, wieso.
»Was machen sie?«
»Ich habe sie in Rente geschickt.«
Véronique hat den Wein entkorkt und serviert eine Gemüsepfanne mit Speck.
»Ein Fertiggericht, muss ich zugeben â¦Â«
Sophie hat auf einmal gemerkt, dass sie Hunger hatte.
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