Der kalte Hauch der Angst
allein.«
»Nein, nein«, sagt Véronique. »Ich mache Kaffee.«
»Ich gehe jetzt besser â¦Â«
»Ist in einer Minute fertig. Bestimmt!«
Véronique wischt sich mit dem Handrücken über die Augen, versucht ein Lächeln.
»Das ist so blöd â¦Â«
Sophie gibt sich eine Viertelstunde, dann wird sie gehen, egal, was passiert.
Aus der Küche erklärt Véronique: »Seit drei Tagen rufter ständig an. Ich habe alles versucht. Ich habe das Telefonkabel rausgezogen, aber wegen meiner Arbeit ist das nicht sehr praktisch. Und wenn ich es klingeln lasse, verkrampfe ich mich. Und so gehe ich eben hin und wieder einen Kaffee trinken â¦Â Vielleicht bekommt er es dann satt, aber das ist ein komischer Kerl, einer, der klammert â¦Â«
Sie stellt die Tassen auf den Couchtisch im Wohnzimmer.
Sophie merkt, dass sie zu viel Wein getrunken hat. Die Einrichtung hat langsam begonnen sich zu drehen, die groÃbürgerliche Wohnung, Véronique, alles fängt an, ineinander überzugehen, da erscheint Léos Gesicht, die Uhr auf dem Kaminsims, die leere Weinflasche auf dem Tisch, das Kinderzimmer, als sie dort hineingeht, das Bett mit den aufgehäuften Decken, die klackenden Schubladen und die Stille, als die Angst sie überkommt. Die Dinge tanzen ihr vor den Augen, das Bild des Passes, den sie in die Tasche ihrer Jacke steckt. Eine Welle überschwemmt sie, alles scheint nach und nach zu verschwinden, sich in Schwarz aufzulösen. Von weit her hört sie Véroniques Stimme: »Ist Ihnen nicht gut?«, aber die Stimme kommt aus einem Brunnenschacht, eine hallende Stimme. Sophie spürt, wie ihr Körper schlapp wird, sie zusammensackt. Und plötzlich erlischt alles.
Auch das ist eine Szene, die sie deutlich vor sich sieht. Noch heute könnte sie jedes Möbelstück, jedes Detail bis hin zur Wohnzimmertapete zeichnen.
Sie liegt auf dem Sofa, ein Bein hängt auf den Boden, sie reibt sich die Augen auf der Suche nach einem Anflug von Bewusstsein, sie schlägt in unregelmäÃigen Abständen die Augen auf und spürt, dass etwas in ihrem Inneren Widerstand leistet und weiterschlafen will, fern von allem. Seitheute Morgen ist sie so erschöpft, es ist so viel passiert â¦Â SchlieÃlich stützt sie sich auf den Ellbogen, dreht sich zum Wohnzimmer hin und schlägt langsam die Augen auf.
Neben dem Tisch liegt Véroniques Leiche in einer Blutlache.
Ihr erster Impuls ist, das Küchenmesser loszulassen, das sie in der Hand hält; es fällt mit einem unheilvollen Geräusch zu Boden.
Wie im Traum. Schwankend steht sie auf. Automatisch versucht sie ihre rechte Hand an der Hose abzuwischen, aber das Blut ist bereits angetrocknet. Sie rutscht in der Lache aus, die sich langsam auf dem Parkett ausbreitet, und kann sich in letzter Sekunde noch am Tisch festhalten. Sie wankt kurz. Sie ist tatsächlich betrunken. Ohne sich dessen bewusst zu sein, hat sie ihre Jacke geschnappt, zieht sie hinter sich her wie eine Leine. Wie ein Lampenkabel. Indem sie sich an den Wänden abstützt, schafft sie es in den Flur. Da ist ihre Tasche. Wieder füllen sich ihre Augen mit Tränen, sie schnieft. Fällt auf den Hintern. Sie vergräbt ihr Gesicht in den Armen, um die sie die Jacke gewickelt hat. Ihr Gesicht fühlt sich komisch an, sie hebt den Kopf. Sie hat die Jacke durch das Blut geschleift, nun hat sie gerade ihre Wangen daran abgewischt â¦Â Wasch dir das Gesicht, bevor du gehst, Sophie. Steh auf!
Aber ihr fehlt die Kraft. Das ist zu viel. Diesmal legt sie sich auf den Boden, den Kopf an die Wohnungstür gelehnt, bereit, wieder einzuschlafen, bereit zu allem, nur um nicht mit dieser Wirklichkeit konfrontiert zu sein. Sie schlieÃt die Augen. Und plötzlich â als würden sie unsichtbare Hände an den Schultern packen und hochheben â¦Â Noch heute kann sie nicht sagen, was passiert ist, doch nun sitzt sie wieder.Dann steht sie wieder. Wankend, aber sie steht. Sie spürt, wie ein wilder Entschluss in ihr reift, eine ganz elementare Sache. Sie geht ins Wohnzimmer. Dort, wo sie steht, kann sie nur Véroniques Beine halb unter dem Tisch sehen. Sie geht hin. Die Leiche liegt auf der Seite, das Gesicht ist von der Schulter verdeckt. Sophie geht näher ran, bückt sich. Die ganze Bluse ist schwarz vor Blut. Mitten im Bauch, wo das Messer eingedrungen ist, klafft eine groÃe
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