Der kalte Hauch der Angst
Reise, sie wird sich ausruhen können.
Auf die Fahrkartenautomaten gibt es buchstäblich einen Ansturm. Sie geht zum Schalter. Sie will eine Wahl treffen. Keine Frau; Frauen sind angeblich die aufmerksameren Beobachter. Kein zu junger Mann, dem sie möglicherweise gefallen und der sich dann an sie erinnern könnte. Am Ende der Reihe findet sie, was sie gesucht hat, und stellt sich in die Warteschlange, ein System, bei dem der Kunde, der an der Reihe ist, zum nächsten frei werdenden Schalter geht. Sie muss sich geschickt anstellen, damit sie das bekommt, was sie will.
Sie setzt die Sonnenbrille ab. Das hätte sie früher machen sollen, um nicht aufzufallen. Daran muss sie von nun an denken. Die Warteschlange ist lang, aber sie käme dennoch ein wenig zu früh an die Reihe, also geht sie ganz langsam weiter und tut so, als würde sie nicht merken, dass sich eine Frau vordrängelt, und dann ist sie genau an der Stelle, wo sie sein wollte. Gott ist mit den Verbrechern. Sie versucht mit fester Stimme zu sprechen, sie kramt in ihrer Tasche und verlangt eine Fahrkarte nach Grenoble mit dem Zug um 18 Uhr 30.
»Ich werde nachsehen, ob es noch Plätze gibt«, sagt der Angestellte und tippt gleich etwas in seinen Computer.
Daran hat sie nicht gedacht. Nun kann sie ihr Ziel nicht mehr ändern, sie kann die Fahrkarte auch nicht ablehnen, denn diese kleine Begebenheit könnte dem Angestellten im Gedächtnis bleiben; er starrt auf seinen Monitor, während er auf die Antwort der Zentraldatei wartet. Sophie weià nicht, was sie tun soll; sie überlegt, ob sie sich umdrehen und gehen, sofort zu einem anderen Bahnhof gehen und ein anderes Fahrtziel wählen soll.
»Tut mir leid«, sagt der Angestellte schlieÃlich und blickt sie zum ersten Mal an, »keine Plätze mehr.«
Er tippt wieder auf der Tastatur.
»Im Zug um 20 Uhr 45 sind noch Plätze frei â¦Â«
»Danke, nein â¦Â«
Sie hat zu schnell gesprochen. Sie versucht zu lächeln.
»Ich muss mir das erst noch überlegen â¦Â«
Sie merkt, dass es nicht gut läuft. Dass das, was sie sagt, unglaubwürdig ist; das würde eine normale Reisende in einem solchen Fall nicht sagen, aber ihr fällt nichts anderes ein. Sie muss sich schleunigst aus dem Staub machen. Sie nimmt ihr Gepäck. Der nächste Kunde steht schon hinter ihr und wartet; keine Zeit zu verlieren, sie dreht sich um und geht.
Nun muss sie einen anderen Schalter finden, ein anderes Reiseziel, aber auch eine andere Strategie, sie muss anders vorgehen, um eine Wahl zu treffen, ohne zu zögern. Der Gedanke, dass sich der Angestellte trotz ihres Theaterspiels an sie erinnern könnte, lässt sie erstarren. In diesem Augenblick entdeckt sie in der Bahnhofshalle das Hertz- Reklameschild. Zu diesem Zeitpunkt ist ihr Name bereits bekannt und ausgeschrieben, es wird nach ihr gesucht, nicht aber nach Véronique Fabre. Sie kann bar bezahlen oder mit Scheck. Und ein Auto bedeutet sofortige Unabhängigkeit, Bewegungsfreiheit; dieser Gedanke verdrängt alles andere, und schon stöÃt sie die Glastür der Autovermietung auf.
Fünfundzwanzig Minuten später geht ein argwöhnischer Angestellter mit ihr um einen marineblauen Ford Fiesta herum, um den makellosen Zustand des Wagens zu dokumentieren. Sie schenkt ihm ein entgegenkommendes Lächeln. Sie hatte Zeit zum Nachdenken und fühlt sich zum ersten Mal seit Stunden wieder stark. Sicherlich geht man davon aus, dass sie Paris schnell verlassen hat. Momentan basiert ihre Strategie auf zwei Entscheidungen: Heute Abendwird sie sich ein Hotelzimmer in einem Pariser Vorort nehmen, morgen ein Autokennzeichen besorgen und das nötige Werkzeug, um es gegen das jetzige auszutauschen.
Als sie den Stadtrand von Paris erreicht, fühlt sie sich ein klein wenig befreit.
Ich bin am Leben, denkt sie.
Wieder kommen ihr die Tränen.
9
Wo steckt Sophie Duguet?
Le Matin, 13. 2. 2003, 14 Uhr 08
Die Ermittlungsbeamten waren sich ganz sicher, und unseren Quellen zufolge gehen die Prognosen nur um wenige Stunden auseinander: Man würde Sophie Duguet innerhalb von zwei Wochen fassen, allerhöchstens.
Doch die meistgesuchte Frau Frankreichs ist nun seit über acht Monaten verschwunden.
Kommuniqué um Kommuniqué, bei Pressekonferenzen und Presseerklärungen schieben sich Kriminalpolizei und Justizministerium gegenseitig unaufhörlich die Schuld zu.
Was
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