Der kalte Hauch der Angst
Wunde. In der Wohnung ist es still. Sophie geht ins Schlafzimmer. Diese zehn Schritte haben sie alle Kraft gekostet, die sie hatte; sie setzt sich auf die Bettkante. Ein Schrank nimmt die ganze Wand ein. Mit beiden Händen auf den Knien geht Sophie vorsichtig zur ersten Tür und öffnet sie. Mit all diesen Kleidern könnte man ein ganzes Waisenhaus versorgen. Sophie hat ungefähr dieselbe GröÃe wie Véronique. Sie öffnet die zweite Schranktür, die dritte; schlieÃlich findet sie einen Koffer, den sie geöffnet aufs Bett wirft. Sie nimmt Kleider, weil sie keine Zeit hat, nach Blusen zu suchen, die zu den Röcken passen. Sie nimmt drei abgetragene Jeans. Diese Bewegung bringt sie wieder ins Leben zurück. Ohne überhaupt darüber nachzudenken, wählt sie Kleider aus, die sie sonst nie tragen würde. Hinter der nächsten Tür findet sie die Schubladen mit der Unterwäsche. Sie wirft aufs Geratewohl eine Handvoll in den Koffer. Bei den Schuhen sieht sie sofort, dass das Spektrum von den unansehnlichsten bis hin zu den hässlichsten reicht. Sie greift sich zwei Paar Lederschuhe und Turnschuhe. Dann setzt sie sich auf den Koffer, um ihn zu schlieÃen, und zerrt ihn zur Wohnungstür, wo sie ihn neben ihrer Tasche abstellt. Ohne sich anzuschauen, wäscht sie sich im Bad die Wangen ab. Im Spiegel sieht sie den rechten Ãrmel ihrer blutigen schwarzen Jacke, sie reiÃt sie sich herunter, als würde sie brennen. Dann geht sie wiederins Schlafzimmer, öffnet den Schrank noch einmal, besieht sich schnell die Jacken und nimmt ein blaues, unauffälliges Blouson. Bis sie alles, was sie in ihrer Jacke hatte, in die Taschen gesteckt hat, ist sie bereits an der Tür und lauscht.
Sie kann sich noch deutlich sehen. Leise macht sie die Tür auf, nimmt den Koffer in die eine Hand, ihre Tasche in die andere und geht ohne Eile die Treppe hinunter, ihr Herz schlägt wieder normal, ihr Gesicht ist trocken, sie kommt ins Keuchen. Gott, ist der Koffer schwer! Bestimmt weil sie so erschöpft ist. Noch ein paar Schritte und sie zieht das Tor zu, steht auf dem Boulevard Diderot und geht schnell nach links, den Bahnhof hinter sich.
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S IE HAT DEN P ASS AUFS W ASCHBECKEN GELEGT , aufgeschlagen auf der Seite mit dem Foto, und betrachtet sich im Spiegel. Ihr Blick wandert mehrmals hin und her. Sie nimmt den Pass wieder in die Hand und prüft das Ausstellungsdatum: 1993. Das ist lange genug her, um Veränderungen im Aussehen zu rechtfertigen. Véronique Fabre, geboren am 11. Februar 1970. Kein groÃer Unterschied. In Chevreaux. Sie hat nicht den Hauch einer Ahnung, wo Chevreaux liegen könnte. Irgendwo in Zentralfrankreich? Schwer zu sagen. Sie muss sich informieren.
Ãbersetzerin. Véronique hat gesagt, dass sie aus dem Russischen und Englischen übersetzt. Sophie und Sprachen! Ein wenig Englisch, noch weniger Spanisch, und all das ist schon so lange her. Wenn man sie auf ihren Beruf anspricht,dann ist alles aus, aber sie kann sich nicht vorstellen, wie es zu dieser Katastrophe kommen sollte. Sollte sie andere exotische Sprachen angeben? Litauisch? Estnisch?
Das Foto ist nicht sehr originell, es zeigt eine ganz normale, unauffällige Frau mit kurzen Haaren. Sophie schaut in den Spiegel. Ihre Stirn ist höher, die Nase breiter, auch ihr Blick ist ganz anders â¦Â Dagegen muss sie etwas unternehmen. Sie beugt sich über das Waschbecken und öffnet die Plastiktüte, in die sie alles gepackt hat, was sie bei Monoprix auf dem Boulevard gekauft hat: Schere, Schminkzeug, Sonnenbrille, Haartönung. Ein letzter Blick in den Spiegel. Dann macht sie sich an die Arbeit.
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S IE VERSUCHT IHR S CHICKSAL ABZULESEN . Sie steht vor der Anzeigetafel, den Koffer hat sie neben sich gestellt, und geht die Fahrtziele durch, die Abfahrtszeiten, die Bahnsteignummern. Wenn sie dieses Ziel wählt und nicht jenes, könnte alles durcheinandergeraten. In der ersten Zeit muss sie den TGV meiden, denn in diesen Waggons ist man eingeschlossen. Sie muss eine Stadt mit hoher Einwohnerdichte finden, wo sie nicht auffällt. Eine Fahrkarte bis zur Endstation kaufen und dann vorher aussteigen â für den Fall, dass sich der Fahrkartenverkäufer an sie erinnert. Sie nimmt ein paar Broschüren und arbeitet am Stehtisch eines Imbissstands eine ausgefeilte Strecke aus, auf der sie mit sechsmal umsteigen von Paris nach Grenoble gelangen kann. Das wird eine lange
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