Der kalte Hauch der Angst
Verdachtsmomente konzentrieren sich natürlich auf die flüchtige junge Frau.
Vorläufige Bilanz: Zwei Tage nach ihrer Flucht wurde Sophie Duguet bereits des Doppelmordes verdächtigt. Die Suche wurde verstärkt, aber bisher ohne Erfolg â¦
Aufrufe an die Bevölkerung zur Mitarbeit, die Ãberwachung aller Orte, wohin Sophie Duguet flüchten könnte, sowie die Mobilisierung zahlreicher »Informanten« brachten kein Ergebnis, und man muss sich fragen, ob es Sophie Duguet nicht doch gelungen ist, Frankreich zu verlassen â¦Â Die Polizei- und Justizbehörden schieben sich zwar gegenseitig die Schuld zu, aber halbherzig â allem Anschein nach gelang Duguet nicht wegen Verfahrensfehlern der einen oder anderen Behörde die Flucht, sondern vor allem durch ihre unerbittliche Entschlossenheit und, entgegen den Annahmen der Polizei, durch einen durchdachten Plan oder eine auÃergewöhnliche Anpassungsgabe. Die Präfektur leugnet, einen Krisenspezialisten eingeschaltet zu haben â¦
Das Netz ist sozusagen ausgeworfen, versichert man uns von allen Seiten. Man muss nur abwarten. Bei der Kripo hofft man, dass die nächste Nachricht von Sophie Duguet nicht ein neuer Mordfall ist. In Bezug auf die Prognosen zeigen sich selbstverständlich alle Seiten mehr als nur zurückhaltend. Man schwankt zwischen morgen, übermorgen und niemals.
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S OPHIE SETZT MECHANISCH einen Fuà vor den anderen. Ihre Hüften bewegen sich nicht. Sie geht stur geradeaus wie aufgezogen. Nach einer längeren Phase des Laufens wird sie allmählich langsamer. Dann bleibt sie stehen, wo sie gerade ist, und geht nach einer Weile weiter, immer noch mit den gleichen ruckartigen Bewegungen.
In letzter Zeit hat sie beträchtlich abgenommen. Sie isst wenig, und wenn, isst sie irgendwas. Sie raucht viel, schläft schlecht. Morgens erwacht sie jäh, fährt mit einem Satz hoch, denkt an nichts, wischt sich die Tränen vom Gesicht und steckt sich die erste Zigarette an. So ist es schon lange. Auch am Morgen dieses 11. März ist es so. Sophie bewohnt eine möblierte Wohnung in einem abgelegenen Viertel. Sie hat dem Zimmer nicht die geringste persönliche Note verliehen. Da ist immer noch dieselbe vergilbte Tapete, derselbe abgetretene Teppichboden, dasselbe durchgesessene Sofa. Kaum ist sie aufgestanden, stellt sie den Fernseher an, ein vorsintflutliches Gerät, das alle Sender mit einem grieseligen Bild empfängt. Ob sie nun fernsieht oder nicht, das Gerät läuft; und tatsächlich verbringt sie viele Stunden vor dem Fernseher. Sie hat es sich sogar zur Gewohnheit gemacht, nur den Ton abzudrehen, wenn sie aus dem Haus geht. Da sie oft spät zurückkommt, kann sie von der StraÃe aus ihr Fenster sehen, das von zuckendem bläulichem Licht erhellt wird. Ist sie in der Wohnung, dann dreht sie als Erstes den Ton wieder laut. Viele Nächte lang hat sie das Gerät laufen lassen und sich vorgestellt, dass ihr Geist im Schlaf bei den Sendungen ist und sie von Alpträumen verschont bleibt. Vergeblich. Zumindest fühlt sie sich so nicht ganz allein, wenn sie aufwacht â die Wettervorhersage am frühen Morgen, wenn der Schlaf sie nach zwei Stunden verlässt, Teleshopping, das sie sich stundenlang anschauen kann, das Mittagsjournal, bei dem sie absichtlich ein Nickerchen macht.
Gegen vierzehn Uhr dreht Sophie den Ton leise und verlässt die Wohnung. Sie geht die Treppe hinunter, zündet sich eine Zigarette an, bevor sie das Haus verlässt, und dann steckt sie wie immer die Hände in die Taschen, um das ständige Zittern zu verbergen.
»Bewegst du jetzt deinen Hintern ein bisschen, oder muss ich nachhelfen?«
StoÃzeit. Im Fast-Food-Lokal geht es zu wie in einem Bienenstock, ganze Familien stellen sich vor dem Tresen an, der Küchendunst erfüllt das Lokal, die Bedienungen rennen, die Gäste lassen die Tabletts auf den Tischen stehen, in der Raucherabteilung liegen ausgedrückte Kippen in den Styropor-Schachteln, die Pappbecher sind umgekippt, sogar unter den Tischen liegen Becher. Sophie ist mit dem Scheuerlappen zugange. Die Gäste steigen über sie hinweg, wenn sie ihre Tabletts zurücktragen. Hinter ihr macht eine Gruppe Gymnasiasten einen Höllenlärm.
»Vergiss es«, sagt Jeanne im Vorbeigehen, »das ist einfach nur ein Riesenarschloch.«
Jeanne, ein mageres Mädchen mit einem fast kantigen
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